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Während ich keine Erinnerungen an die Lügen habe, die ich meinen Eltern zur Fahrt

mit Hanna präsentierte, erinnere ich mich an den Preis, den ich zahlen mußte, damit ich in

der letzten Ferienwoche alleine zu Hause bleiben konnte. Ich weiß nicht mehr, wohin

meine Eltern, die große Schwester und der große Bruder verreisten. Das Problem war die

kleine Schwester. Sie sollte in die Familie einer Freundin. Aber wenn ich zu Hause bliebe,

wollte sie auch zu Hause bleiben. Das wollten meine Eltern nicht. Also sollte auch ich in

die Familie eines Freundes.

Im Rückblick finde ich beachtlich, daß meine Eltern bereit waren, mich

Fünfzehnjährigen eine Woche lang alleine zu Hause zu lassen. Hatten sie die

Selbständigkeit bemerkt, die durch die Begegnung mit Hanna in mir gewachsen war?

Oder hatten sie einfach registriert, daß ich trotz der Monate der Krankheit die Klasse

geschafft hatte, und daraus geschlossen, daß ich verantwortungsbewußter und

vertrauenswürdiger war, als ich bisher hatte erkennen lassen? Ich erinnere mich auch nicht,

daß ich wegen der vielen Stunden, die ich damals bei Hanna verbrachte, zur Rechenschaft

gezogen worden wäre. Meine Eltern nahmen mir anscheinend ab, daß ich, wieder gesund,

viel mit Freunden zusammen sein, zusammen lernen und zusammen Freizeit verbringen

wollte. Überdies sind vier Kinder ein Rudel, bei dem die Aufmerksamkeit der Eltern nicht

allen gelten kann, sondern sich auf das konzentriert, das gerade besondere Probleme

machte. Ich hatte lange genug Probleme gemacht; meine Eltern waren erleichtert, daß ich

gesund und in die nächste Klasse versetzt war.26 / 89

Als ich meine kleine Schwester fragte, was sie haben wolle, damit sie zu ihrer Freundin

gehe, während ich zu Hause bliebe, verlangte sie Jeans, wir sagten damals Blue Jeans oder

Nietenhosen, und einen Nicki, einen samtenen Pullover. Das verstand ich. Jeans waren

damals noch etwas Besonderes, Schickes, und überdies versprachen sie die Befreiung von

Fischgrätanzügen und großblumig gemusterten Kleidern. Wie ich die Sachen meines

Onkels auftragen mußte, mußte meine kleine Schwester die Sachen der großen Schwester

auftragen. Aber ich hatte kein Geld.

»Dann klau sie!« Meine kleine Schwester schaute gleichmütig.

Es war verblüffend einfach. Ich probierte verschiedene Jeans an, nahm auch ein Paar

ihrer Größe in die Umkleidekabine und trug es unter der weit geschnittenen Anzughose

am Bauch aus dem Geschäft. Den Nicki klaute ich im Kaufhof. Am einen Tag

schlenderten meine kleine Schwester und ich in der Modeabteilung von Stand zu Stand,

bis wir den richtigen Stand und den richtigen Nicki gefunden hatten. Am nächsten Tag

ging ich eilenden, entschlossenen Schritts durch die Abteilung, griff den Pullover, barg ihn

unter der Anzugsjacke und war auch schon draußen. Am Tag darauf klaute ich für Hanna

ein seidenes Nachthemd, wurde vom Kaufhofdetektiv gesehen, rannte wie um mein Leben

und entkam mit Mühe und Not. Ich habe den Kaufhof jahrelang nicht betreten.

Seit den gemeinsamen Nächten auf unserer Fahrt hatte ich jede Nacht Sehnsucht danach,

sie neben mir zu spüren, mich an sie zu kuscheln, meinen Bauch an ihren Po und meine

Brust an ihren Rücken, meine Hand auf ihre Brüste zu legen, beim nächtlichen Aufwachen

sie mit dem Arm zu suchen, zu finden, ein Bein über ihre Beine zu schieben und das

Gesicht an ihre Schulter zu drücken. Eine Woche alleine zu Hause war sieben Nächte mit

Hanna.

An einem Abend habe ich sie eingeladen und für sie gekocht. Sie stand in der Küche,

als ich letzte Hand ans Essen legte. Sie stand in der offenen Flügeltür zwischen Eß- und

Wohnzimmer, als ich auftrug. Sie saß am runden Eßtisch, wo sonst mein Vater saß. Sie sah

sich um.

Ihr Blick tastete alles ab, die Biedermeiermöbel, den Flügel, die alte Standuhr, die

Bilder, die Regale mit den Büchern, Geschirr und Besteck auf dem Tisch. Als ich sie

alleine gelassen hatte, um den Nachtisch fertigzumachen, fand ich sie nicht am Tisch

wieder. Sie war von Zimmer zu Zimmer gegangen und stand im Arbeitszimmer meines

Vaters. Ich lehnte mich leise an den Türpfosten und sah ihr zu. Sie ließ ihren Blick über

die Bücherregale wandern, die die Wände füllten, als lese sie einen Text. Dann ging sie zu

einem Regal, fuhr in Brusthöhe mit dem Zeigefinger der rechten Hand langsam die

Buchrücken entlang, ging zum nächsten Regal, fuhr mit dem Finger weiter, Buchrücken

um Buchrücken, und schritt das ganze Zimmer ab. Beim Fenster blieb sie stehen, sah in

die Dunkelheit, auf den Widerschein der Bücherregale und auf ihr Spiegelbild.

Es ist eines der Bilder von Hanna, die mir geblieben sind. Ich habe sie gespeichert, kann 27 / 89

sie auf eine innere Leinwand projizieren und auf ihr betrachten, unverändert, unverbraucht.

Manchmal denke ich lange nicht an sie. Aber immer kommen sie mir wieder in den Sinn,

und dann kann es sein, daß ich sie mehrfach hintereinander auf die innere Leinwand

projizieren und betrachten muß. Eines ist Hanna, die in der Küche die Strümpfe anzieht.

Ein anderes ist Hanna, die vor der Badewanne steht und mit ausgebreiteten Händen das

Frottiertuch hält. Ein weiteres ist Hanna, die Fahrrad fährt und deren Rock im Fahrtwind

weht. Dann ist da das Bild von Hanna im Arbeitszimmer meines Vaters. Sie hat ein

blau-weiß gestreiftes Kleid an, ein damals so genanntes Hemdblusenkleid. In ihm sieht sie

jung aus. Sie ist mit dem Finger die Bücherrücken entlanggefahren und hat ins Fenster

gekuckt. Jetzt dreht sie sich zu mir um, schnell genug, daß der Rock einen kurzen

Augenblick um ihre Beine schwingt, ehe er wieder glatt hängt. Ihr Blick ist müde.

»Sind das Bücher, die dein Vater nur gelesen oder auch geschrieben hat?«

Ich wußte von einem Kant- und einem Hegel-Buch meines Vater, suchte und fand beide

und zeigte sie ihr.

»Lies mir ein bißchen daraus vor. Willst du nicht, Jungchen?«

»Ich…« Ich mochte nicht, mochte ihr aber den Wunsch auch nicht abschlagen. Ich

nahm das Kant-Buch meines

Vaters und las ihr daraus vor, eine Passage über Analytik und Dialektik, die sie und ich

gleichermaßen nicht verstanden. »Langt das?«

Sie sah mich an, als habe sie alles verstanden oder als komme es nicht darauf an, was

man versteht und was nicht. »Wirst du eines Tages auch solche Bücher schreiben?«

Ich schüttelte den Kopf.

»Wirst du andere Bücher schreiben?«

»Ich weiß nicht.«

»Wirst du Stücke schreiben?«

»Ich weiß nicht, Hanna.«

Sie nickte. Dann haben wir den Nachtisch gegessen und sind zu ihr gegangen. Ich hätte

gerne mit ihr in meinem Bett geschlafen, aber sie wollte nicht. Sie fühlte sich bei mir zu

Hause als Eindringling. Sie sagte es nicht mit Worten, aber durch die Art, mit der sie in der

Küche oder in der offenen Flügeltür stand, von Zimmer zu Zimmer ging, die Bücher

meines Vaters abschritt und mit mir beim Essen saß.

Ich schenkte ihr das seidene Nachthemd. Es war auberginenfarben, hatte dünne Träger,

ließ Schultern und Arme frei und reichte bis an die Knöchel. Es glänzte und schimmerte.

Hanna freute sich, lachte und strahlte. Sie sah an sich hinab, drehte sich, tanzte ein paar

Schritte, sah sich im Spiegel, betrachtete kurz ihr Spiegelbild und tanzte weiter. Auch das

ist ein Bild, das mir von Hanna geblieben ist.

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