ZWEITER TEIL 2

Ich sah Hanna im Gerichtssaal wieder.

Es war nicht der erste KZ-Prozeß und keiner der

großen. Der Professor, einer der wenigen, die damals

über die Nazi-Vergangenheit und die einschlägigen

Gerichtsverfahren arbeiteten, hatte ihn zum Gegenstand

eines Seminars gemacht, weil er hoffte, ihn mit Hilfe von

Studenten über die ganze Dauer verfolgen und auswerten

zu können. Ich weiß nicht mehr, was er überprüfen,

bestätigen oder widerlegen wollte. Ich erinnere mich, daß

im Seminar über das Verbot rückwirkender Bestrafung

diskutiert wurde. Genügt es, daß der Paragraph, nach dem

die KZ-Wächter und -Schergen verurteilt werden, schon

zur Zeit ihrer Taten im Strafgesetzbuch stand, oder kommt

es darauf an, wie er zur Zeit ihrer Taten verstanden und

angewandt und daß er damals eben nicht auf sie bezogen

wurde? Was ist das Recht? Was im Buch steht oder was

in der Gesellschaft tatsächlich durchgesetzt und befolgt

wird? Oder ist Recht, was, ob es im Buch steht oder nicht,

durchgesetzt und befolgt werden müßte, wenn alles mit

rechten Dingen zuginge? Der Professor, ein alter Herr,

aus der Emigration zurückgekehrt, aber in der deutschen

286

87

Rechtswissenschaft ein Außenseiter geblieben, nahm an

diesen Diskussionen mit all seiner Gelehrsamkeit und

zugleich mit der Distanz dessen teil, der für die Lösung

eines Problems nicht mehr auf Gelehrsamkeit setzt.

»Sehen Sie sich die Angeklagten an – Sie werden keinen

finden, der wirklich meint, er habe damals morden

dürfen.«

Das Seminar begann im Winter, die Gerichtsverhandlung

im Frühjahr. Sie zog sich über viele Wochen hin.

Verhandelt wurde montags bis donnerstags, und für

jeden dieser vier Tage hatte der Professor eine Gruppe

von Studenten eingeteilt, die ein wörtliches Protokoll

führten. Am Freitag war Seminarsitzung und wurden die

Ereignisse der vergangenen Woche aufgearbeitet.

Aufarbeitung! Aufarbeitung der Vergangenheit! Wir

Studenten des Seminars sahen uns als Avantgarde der

Aufarbeitung. Wir rissen die Fenster auf, ließen die Luft

herein, den Wind, der endlich den Staub aufwirbelte,

den die Gesellschaft über die Furchtbarkeiten der

Vergangenheit hatte sinken lassen. Wir sorgten dafür,

daß man atmen und sehen konnte. Auch wir setzten nicht

auf juristische Gelehrsamkeit. Daß verurteilt werden

müsse, stand für uns fest. Ebenso fest stand für uns, daß

es nur vordergründig um die Verurteilung dieses oder

jenes KZ-Wächters und -Schergen ging. Die Generation,

die sich der Wächter und Schergen bedient oder sie nicht

gehindert oder sie nicht wenigstens ausgestoßen hatte,

als sie sie nach 1945 hätte ausstoßen können, stand vor

Gericht, und wir verurteilten sie in einem Verfahren der

Aufarbeitung und Aufklärung zu Scham.

Unsere Eltern hatten im Dritten Reich ganz verschie-dene Rollen gespielt. Manche Väter waren im Krieg

gewesen, darunter zwei oder drei Offiziere der Wehrmacht

und ein Offizier der Waffen-SS, einige hatten Karrieren in

Justiz und Verwaltung gemacht, wir hatten Lehrer und

Ärzte unter unseren Eltern, und einer hatte einen Onkel,

der hoher Beamter beim Reichsminister des Inneren

gewesen war. Ich bin sicher, daß sie, soweit wir sie gefragt

und sie uns geantwortet haben, ganz Verschiedenes

mitzuteilen hatten. Mein Vater wollte nicht über sich

reden. Aber ich wußte, daß er seine Stelle als Dozent der

Philosophie wegen der Ankündigung einer Vorlesung

über Spinoza verloren und sich und uns als Lektor

eines Verlags für Wanderkarten und -bücher durch den

Krieg gebracht hatte. Wie kam ich dazu, ihn zu Scham

zu verurteilen? Aber ich tat es. Wir alle verurteilten

unsere Eltern zu Scham, und wenn wir sie nur anklagen

konnten, die Täter nach 1945 bei sich, unter sich geduldet

zu haben.

Wir Studenten des Seminars entwickelten eine starke

Gruppenidentität. Wir vom KZ-Seminar – zunächst

nannten die anderen Studenten es so und bald auch

wir selbst. Was wir machten, interessierte die anderen

nicht; es befremdete viele, stieß manche geradezu ab. Ich

denke jetzt, daß der Eifer, mit dem wir Furchtbarkeiten

zur Kenntnis nahmen und anderen zur Kenntnis bringen

wollten, tatsächlich abstoßend war. Je furchtbarer die

Ereignisse waren, über die wir lasen und hörten, desto

gewisser wurden wir unseres aufklärerischen und

anklägerischen Auftrags. Auch wenn die Ereignisse uns

den Atem stocken ließen – wir hielten sie triumphierend

hoch. Seht her!

88Ich hatte mich aus schlichter Neugier zum Seminar

gemeldet. Es war einmal etwas anderes, nicht

Kaufrecht und nicht Täterschaft und Teilnahme, nicht

Sachsenspiegel und keine rechtsphilosophischen

Altertümer. Das großspurige, überlegene Gehabe, das

ich mir angewöhnt hatte, habe ich auch in das Seminar

mitgebracht. Aber im Laufe des Winters konnte ich mich

immer weniger entziehen – nicht den Ereignissen, über

die wir lasen und hörten, und nicht dem Eifer, der die

Studenten des Seminars ergriff. Zunächst machte ich

mir vor, ich wolle nur den wissenschaftlichen oder auch

den politischen und den moralischen Eifer teilen. Aber

ich wollte mehr, ich wollte das gemeinsame Eifern teilen.

Die anderen mögen mich immer noch als distanziert und

arrogant empfunden haben. Ich selbst hatte während der

Wintermonate das gute Gefühl, dazuzugehören und mit

mir und dem, was ich tat, und denen, mit denen ich’s tat,

im reinen zu sein

©著作权归作者所有,转载或内容合作请联系作者
平台声明:文章内容(如有图片或视频亦包括在内)由作者上传并发布,文章内容仅代表作者本人观点,简书系信息发布平台,仅提供信息存储服务。

推荐阅读更多精彩内容

  • Warum macht es mich so traurig, wenn ich an damals denke?...
    涤虑玄览阅读 832评论 0 0
  • In den nächsten Tagen hatte die Frau Frühschicht. Sie kam...
    涤虑玄览阅读 656评论 0 1
  • Nicht daß Hanna und ich nach dem ersten Tag der Osterferi...
    涤虑玄览阅读 431评论 0 0
  • Ich habe nie erfahren, was Hanna machte, wenn sie weder a...
    涤虑玄览阅读 754评论 0 3
  • 0:11 Das ist die Geschichte, wie ich einmal fast entführt...
    maximilain阅读 3,704评论 0 0