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Wenn bei Flugzeugen die Motoren ausfallen, ist das nicht das Ende des Flugs. Die

Flugzeuge fallen nicht wie Steine vom Himmel. Sie gleiten weiter, die riesengroßen,

mehrstrahligen Passagierflugzeuge eine halbe bis Dreiviertelstunde lang, um dann beim

Versuch des Landens zu zerschellen. Die Passagiere merken nichts. Fliegen fühlt sich bei

ausgefallenen Motoren nicht anders an als bei arbeitenden. Es ist leiser, aber nur ein

bißchen leiser: Lauter als die Motoren ist der Wind, der sich an Rumpf und Flügeln bricht.

Irgendwann sind beim Blick durchs Fenster die Erde oder das Meer bedrohlich nah. Oder

der Film läuft, und die Stewardessen und Stewards haben die Jalousien geschlossen.

Vielleicht empfinden die Passagiere den ein bißchen leiseren Flug sogar als besonders

angenehm.

Der Sommer war der Gleitflug unserer Liebe. Oder vielmehr meiner Liebe zu Hanna;

über ihre Liebe zu mir weiß ich nichts.

Wir haben unser Ritual des Vorlesens, Duschens, Liebens und Beieinanderliegens

beibehalten. Ich habe »Krieg und Frieden« vorgelesen, mit allen Darlegungen Tolstois

über Geschichte, große Männer, Rußland, Liebe und Ehe, es müssen vierzig bis fünfzig

Stunden gewesen sein. Wieder ist Hanna dem Fortgang des Buchs gespannt gefolgt. Aber 30 / 89

es war anders als bisher; sie hielt sich mit ihren Urteilen zurück, machte Natascha, Andrej

und Pierre nicht zum Teil ihrer Welt, wie sie das mit Luise und Emillia getan hatte,

sondern betrat ihre Welt, wie man staunend eine ferne Reise tut oder ein Schloß betritt, in

das man eingelassen ist, in dem man verweilen darf, mit dem man vertraut wird, ohne

doch die Scheu je völlig zu verlieren. Was ich ihr bisher vorgelesen hatte, hatte ich davor

schon gekannt. »Krieg und Frieden« war auch für mich neu. Wir taten die ferne Reise

gemeinsam.

Wir haben Kosenamen füreinander erdacht. Sie begann, mich nicht mehr nur Jungchen

zu nennen, sondern auch, mit verschiedenen Attributen und Diminutiven, Frosch oder

Kröte, Welpe, Kiesel und Rose. Ich blieb bei Hanna, bis sie mich fragte: »An was für ein

Tier denkst du, wenn du mich im Arm hältst, die Augen schließt und an Tiere denkst?« Ich

schloß die Augen und dachte an Tiere. Wir lagen aneinandergeschmiegt, mein Kopf an

ihrem Hals, mein Hals an ihren Brüsten, mein rechter Arm unter ihr und auf ihrem Rücken

und mein linker auf ihrem Po. Ich strich mit Armen und Händen über ihren breiten Rücken,

ihre harten Schenkel, ihren festen Po und spürte auch ihre Brüste und ihren Bauch fest an

Hals und Brust. Glatt und weich fühlte sich ihre Haut an und ihr Körper darunter kraftvoll

und verläßlich. Als meine Hand auf ihrer Wade lag, fühlte sie ein stetiges, zuckendes Spiel

der Muskeln. Es ließ mich an das Zucken der Haut denken, mit dem Pferde Fliegen zu

verscheuchen versuchen. »An ein Pferd.«

»Ein Pferd?« Sie löste sich von mir, richtete sich auf und sah mich an. Sah mich entsetzt

an.

»Magst du das nicht? Ich komme drauf, weil du dich so gut anfühlst, glatt und weich

und darunter fest und stark. Und weil deine Wade zuckt.« Ich erklärte ihr meine

Assoziation.

Sie sah auf das Muskelspiel ihrer Waden. »Pferd«, sie schüttelte den Kopf, »ich weiß

nicht…«

Das war nicht ihre Art. Sie war sonst völlig eindeutig, entweder in Zustimmung oder in

Ablehnung. Ich war unter ihrem entsetzten Blick bereit gewesen, wenn’s sein mußte, alles

zurückzunehmen, mich anzuklagen und sie um Entschuldigung zu bitten. Aber jetzt

versuchte ich, sie mit dem Pferd zu versöhnen. »Ich könnte Cheval zu dir sagen oder

Hottehüh oder Equinchen oder Bukeffelchen. Ich denke bei Pferd nicht an Pferdegebiß

oder Pferdeschädel oder was immer dir nicht gefällt, sondern an etwas Gutes, Warmes,

Weiches, Starkes. Du bist kein Häschen oder Kätzchen, und Tigerin – da ist was drin, was

Böses, was du auch nicht bist.«

Sie legte sich auf den Rücken, die Arme hinter dem Kopf. Jetzt richtete ich mich auf

und sah sie an. Ihr Blick ging ins Leere. Nach einer Weile wandte sie mir ihr Gesicht zu.

Sein Ausdruck war von eigentümlicher Innigkeit. »Doch, ich mag, wenn du Pferd zu mir

sagst oder die anderen Pferdenamen – erklärst du sie mir?«31 / 89

Einmal sind wir zusammen in der Nachbarstadt im Theater gewesen und haben »Kabale

und Liebe« gesehen. Es war Hannas erster Theaterbesuch, und sie genoß alles, von der

Aufführung bis zum Sekt in der Pause. Ich legte meinen Arm um ihre Taille, und mir war

egal, was die Leute von uns als Paar denken mochten. Ich war stolz darauf, daß es mir egal

war. Zugleich wußte ich, daß es mir im Theater in meiner Heimatstadt nicht egal gewesen

wäre. Wußte sie es auch?

Sie wußte, daß mein Leben im Sommer nicht mehr nur um sie, die Schule und das

Lernen kreiste. Immer öfter kam ich, wenn ich am späten Nachmittag zu ihr kam, aus dem

Schwimmbad. Dort trafen sich die Klassenkameradinnen und -kameraden, machten

zusammen Schulaufgaben, spielten Fuß- und Volleyball und Skat und flirteten. Dort fand

das gesellschaftliche Leben der Klasse statt, und es bedeutete mir viel, dabeizusein und

dazuzugehören. Daß ich, je nach Hannas Arbeit, später als die anderen kam oder früher

ging, war meinem Ansehen nicht abträglich, sondern machte mich interessant. Ich wußte

das. Ich wußte auch, daß ich nichts verpaßte, und hatte doch oft das Gefühl, es passiere,

gerade wenn ich nicht dabei war, Wunder weiß was. Ob ich lieber im Schwimmbad wäre

als bei Hanna, habe ich mich lange nicht zu fragen gewagt. Aber an meinem Geburtstag

im Juli wurde ich im Schwimmbad gefeiert und nur bedauernd gehengelassen und von

einer erschöpften Hanna schlecht gelaunt empfangen. Sie wußte nicht, daß mein

Geburtstag war. Als ich nach ihrem gefragt und sie mir den 21. Oktober genannt hatte,

hatte sie mich nach meinem nicht gefragt. Sie war auch nicht schlechter gelaunt als sonst,

wenn sie erschöpft war. Aber mich ärgerte ihre schlechte Laune, und ich wünschte mich

weg, ins Schwimmbad, zu den Klassen-kameradinnen und -kameraden, zur Leichtigkeit

unseres Redens, Scherzens, Spielens und Flirtens. Als auch ich schlecht gelaunt reagierte,

wir in Streit gerieten und Hanna mich wie Luft behandelte, kam wieder die Angst, sie zu

verlieren, und ich erniedrigte und entschuldigte mich, bis sie mich zu sich nahm. Aber ich

war voll Groll.

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