Die Stars vom Strand
Es gibt sie fast nur in Deutschland – aber dort sind sie an fast allen Stränden zu sehen. Was macht die Strandkörbe so populär?
Von Dörte Nohrden
Extrem schnell flicht Ronny Sass weiße, mehrere Meter lange Bänder um die runden Teile eines Holzgestells. Links, rechts, links, rechts – es geht schneller, als der Blick mitgehen kann. Das macht er immer weiter, immer höher. Sass ist ein professioneller Flechter. Seit 28 Jahren stellt er in Heringsdorf auf der Ostsee-Insel Usedom mit eigenen Händen deutsche Sommerträume her: Strandkörbe. Und zwar in der ältesten Strandkorbmanufaktur Deutschlands. Die gibt es schon seit fast 100 Jahren.
Für seine Arbeit braucht Sass sehr viel Kraft und Talent. Und das, obwohl die Strandkörbe mit den flexiblen Kunststoffbändern sehr viel leichter herzustellen sind als mit Naturstoffen. Die bestellen nur noch wenige Kunden.
Kein Strandkorb ist wie ein anderer.
„Gerade dürfen wir das wegen Corona ja nicht. Aber wenn Sie einem Flechter die Hand schütteln, fühlen Sie sich wie in einem Schraubstock“, erzählt Dirk Mund, Chef des Korbwerks. Der Schleswig-Holsteiner ist 2011 nach Usedom gekommen, um die Firma als Teilhaber zu modernisieren. „Eigentlich wollte ich nur zwei Jahre bleiben“, erzählt der 57-Jährige. Aber dann ist er geblieben. Heute wohnt er direkt auf dem Firmenareal. Er hat 20 Angestellte, sieben davon sind Flechter. „Viele Flechter können auch Gestelle bauen und nähen, oder andersherum“, sagt Mund. Das ist wichtig, um immer wieder flexibel auf die unterschiedlichen Bestellungen reagieren zu können. Denn jeder Auftrag ist anders – und kein Strandkorb ist wie ein anderer.
Sass arbeitet an einem runden Ostseemodell. Neben ihm flicht sein Kollege an einem Nordseemodell. „Man unterscheidet sie an den Seitenteilen, wo man die Liegepositionen einstellt“, erklärt Mund. „Beim Ostseemodell sind sie geschwungen wie eine Ostseewelle, beim Nordseemodell gerade und flach wie die Ebbe.“
Heute sind diese beiden Formen die wichtigsten. Begonnen hat es aber einmal ziemlich rund. Das zeigt ein anderes Modell gegenüber. Hier arbeitet Heiko Stock mit hartem Weidengeflecht – das ist nicht so einfach. Damit er es biegen kann, muss es permanent ein bisschen nass sein. Seit fast 40 Jahren ist Stock schon dabei. Strandkörbe hat er schon zu Zeiten der Deutschen Demokratischen Republik hergestellt, als die Firma als „VEB Korb- und Flechtwaren“ dem Staat gehört hat. „Aber mit Weide habe ich seit 30 Jahren nicht geflochten“, erzählt Stock, während er an dem Naturstoff mit einem Hammer arbeitet, „nun baue ich gleich drei von dieser Sorte.“
Nur noch rund 20 Zentimeter fehlen, dann ist der historische Prototyp fertig – der erste Strandkorb aus dem Jahr 1882. Ein Sonderauftrag. „Unter anderem hat ein Museum ein solches Original bestellt“, sagt Mund. Denn mit Objekten wie diesem hat der gigantische Erfolg des wichtigsten deutschen maritimen Urlaubssymbols begonnen. Heute ist es ein so starkes Symbol für die Nord- und Ostsee wie außer ihm nur noch die rot-weißen Leuchttürme.
Angefangen hat alles in Rostock. Zu einer Zeit, als es modern ist, blass zu sein, und es noch keine Sonnencreme gibt. Aber Sonnenschutz war nicht das Motiv.
Eine ältere Dame, Elfriede von Maltzahn, besucht 1882 den Korbmacher Wilhelm Bartelmann in seinem Laden. Sie hat Rheuma. Aber trotzdem will sie ans Meer. Deshalb bestellt sie bei dem Korbmacher einen speziellen Stuhl: Er soll die Dame am Strand vor dem Wind schützen.
Der junge Bartelmann hat eine Idee. Er stellt sich einen vertikal gestellten Wäschekorb vor – ein perfekter Schutz gegen Sonne, Sand und Wind. So baut der Korbmacher 1882 den ersten Weiden-Strandstuhl. Das erste Modell hat Platz für eine Person: Frau von Maltzahn. Erst lachen die Leute über diesen Strandstuhl. Dann bestellen sie selbst einen. Bald werden die Stühle groß genug für zwei Personen. Dann bekommen sie Markisen, Tischchen und Stützfüße.
Und Bartelmanns Ehefrau Elisabeth hat eine Idee: Sie will die Weidenstühle nicht nur verkaufen. Sie will sie auch am Strand verleihen. Elisabeth Bartelmann stellt eine Anzeige in die Zeitung – mit Erfolg: Im Sommer 1883 hat die Hafenstadt Warnemünde bei Rostock die erste Strandkorb-Vermietung Deutschlands.
Bald hat das Geschäftsmodell in vielen anderen Orten an der Ostsee Erfolg, später an der Nordsee. Der Psychoanalytiker Sigmund Freud, der Autor Theodor Fontane und der Physiker Albert Einstein: Sie alle ruhen sich in einem Strandkorb aus. Und Thomas Mann hat ganze Romanteile in seinem eigenen Modell geschrieben. In seinem vielleicht wichtigsten Roman, Buddenbrocks, ist ein Strandkorb ein Accessoire. Nur: Die Szene spielt 1845, als es noch keine Strandkörbe gibt.
Der Strandkorb ist bis heute ein deutsches Phänomen geblieben.
Was hat den Strandkorb so populär gemacht? Korbwerk-Chef Mund erklärt es so: „Ein Strandkorb bietet ja nicht nur Schutz vor Wind und Sonne. Man mietet sich in Wirklichkeit ja ein Stück Erde, ein Stück Privatsphäre. Das ist der psychologische Ursprung, warum es funktioniert.“ Manchmal liegen um einen typischen Familien-Strandkorb kleine Sandberge. Dann erinnert die Szene manchmal wirklich an eine Festung. Und manch einer sieht in dem Strandkorb die Strand-Version des Schrebergartens (siehe Deutsch perfekt 6/2018) – typisch deutsch. Positiv formuliert, bringt dieses Strandmöbel vielleicht die „deutsche Gemütlichkeit“.
Der Strandkorb ist bis heute ein deutsches Phänomen geblieben. Das meint auch Dirk Mund. Zwar liefert er auch Strandkörbe ins Ausland – zehn stehen zum Beispiel in einem Hotel in Dubai. Aber meistens sind es private Bestellungen von im Ausland lebenden Deutschen von Panama bis Australien. Die bestellen ein Stück Heimat. „Unser Händler in Liverpool hat aufgegeben, schon der zweite“, sagt Mund. Seine Erfahrung: Andere Länder nehmen die deutsche Tradition nicht an. In manchen ist es auch verboten, Körbe an den Strand zu stellen. „Es ist wohl kulturell nicht gewollt.“
Anders in Deutschland: Zwar gibt es zurzeit kaum Bestellungen von Hotels, Gastronomie und Strandkorbvermietern. „Aber der private Konsum kompensiert das, wir haben so viel zu tun“, so Mund. Und ein Blick in den Showroom zeigt: Zwischen Bartelmanns erstem Prototyp und den heutigen Luxuskörben gibt es sehr große Unterschiede.
Was soll der Strandkorb denn bieten? Eine Sitzheizung oder lieber eine Massagefunktion? Oder beides? Einen Sektkühler und ein integriertes Soundsystem? Teak oder afrikanisches Holz?
„Manche, die ihre Fernreise nicht antreten können, bestellen sich stattdessen einen schicken Strandkorb für ihren Garten“, sagt Mund. Bis zu 10 000 Euro kosten die teuersten Modelle. Zwei Wochen arbeitet die Manufaktur an einem Luxusmodell. Für einen Standard-Strandkorb braucht sie nur ein bis zwei Tage.
Ob blau-weiß, rot-weiß oder orange gestreift: Strandkörbe sind typisch für die deutschen Strände. Mund glaubt: Von Norderney ganz im Westen über Sylt bis Usedom an der deutsch-polnischen Grenze stehen circa 110 000 Körbe. Darin lesen und träumen die Menschen – und freuen sich über den Blick auf das Meer. Und das wahrscheinlich auch in 100 Jahren noch.
Quelle: Deutsch Perfekt