2023-07-23

Heute vor 75 Jahren ist in Europa der Zweite Weltkrieg zu Ende

gegangen.

Der 8. Mai 1945 war das Ende der nationalsozialistischen

Gewaltherrschaft, das Ende von Bombennächten und Todesmärschen,

das Ende beispielloser deutscher Verbrechen und des

Zivilisationsbruches der Shoah. Hier in Berlin, wo der

Vernichtungskrieg erdacht und entfesselt worden war und wohin er mit

aller Wucht der Zerstörung zurückkehrte – hier in Berlin wollten wir

heute gemeinsam erinnern.

Wir wollten erinnern – gemeinsam mit Vertretern der Alliierten

aus dem Westen und aus dem Osten, die diesen Kontinent – unter

größten Opfern – befreit haben. Gemeinsam mit unseren Partnern aus

allen Teilen Europas, die unter deutscher Besatzung gelitten haben und

dennoch zur Versöhnung bereit waren. Gemeinsam mit den

Überlebenden deutscher Verbrechen und den Nachfahren der Opfer,

von denen so viele uns die Hand ausgestreckt haben. Gemeinsam mit

all denen auf der Welt, die diesem Land die Chance gegeben haben,

neu anzufangen.

Wir wollten erinnern – auch mit den Älteren in unserem Land, die

jene Zeit selbst erlebt haben. Hunger, Flucht, Gewalt, Vertreibung –

alles das haben sie als Kinder durchlitten. Nach dem Krieg haben sie

dieses Land aufgebaut, im Osten wie im Westen.

Und wir wollten mit den Jüngeren gedenken, die heute, drei

Generationen später, fragen, was die Vergangenheit ihnen eigentlich

noch zu sagen hat – und denen ich zurufe: „Auf euch kommt es an! Ihr

seid es, die die Lehren aus diesem furchtbaren Krieg in die Zukunft

tragen müssen!“ Genau deshalb hatten wir heute tausende Jugendliche

aus aller Welt nach Berlin eingeladen, junge Menschen, deren

Vorfahren Feinde waren und die heute zu Freunden geworden sind.

So wollten wir an diesem 8. Mai gemeinsam erinnern. Doch nun

zwingt uns die Corona-Pandemie, allein zu gedenken – getrennt von

denen, die uns wichtig sind und denen wir dankbar sind.

Vielleicht versetzt uns dieses Alleinsein für einen kurzen Moment

noch einmal zurück an jenen 8. Mai 1945. Denn damals waren die

Deutschen tatsächlich allein. Deutschland war militärisch besiegt,

politisch und wirtschaftlich am Boden, moralisch zerrüttet. Wir hatten

uns die ganze Welt zum Feind gemacht.

Heute, 75 Jahre später, müssen wir allein gedenken – aber: Wir

sind nicht allein! Das ist die glückliche Botschaft des heutigen Tages!

Wir leben in einer starken, gefestigten Demokratie, im dreißigsten Jahr

des wiedervereinten Deutschlands, im Herzen eines friedlichen und

vereinten Europa. Wir genießen Vertrauen und wir ernten die Früchte

von Zusammenarbeit und Partnerschaft rund um die Welt. Ja, wir

Deutsche dürfen heute sagen: Der Tag der Befreiung ist ein Tag der

Dankbarkeit!

Drei Generationen hat es gedauert, bis wir uns dazu aus vollem

Herzen bekennen konnten.

Ja, der 8. Mai 1945 war ein Tag der Befreiung. Aber er war es

noch lange nicht in den Köpfen und Herzen der Menschen.

Die Befreiung war 1945 von außen gekommen. Sie musste von

außen kommen – so tief war dieses Land verstrickt in sein eigenes

Unheil, in seine Schuld. Und auch wirtschaftlicher Wiederaufbau und

demokratischer Neubeginn im Westteil Deutschlands wurden nur

möglich durch die Großzügigkeit, Weitsicht und

Versöhnungsbereitschaft unserer ehemaligen Kriegsgegner.

Doch auch wir selbst haben Anteil an der Befreiung. Es war die

innere Befreiung. Sie geschah nicht am 8. Mai 1945 und nicht an

einem einzigen Tag. Sondern sie war ein langer, schmerzhafter Weg.

Aufarbeitung und Aufklärung über Mitwisserschaft und Mittäterschaft,

quälende Fragen in den Familien und zwischen den Generationen, der

Kampf gegen das Verschweigen und Verdrängen.

Es waren Jahrzehnte, in denen viele Deutsche meiner Generation

erst nach und nach ihren Frieden mit diesem Land gemacht haben. Es

waren auch Jahrzehnte, die bei unseren Nachbarn neues Vertrauen

wachsen ließen, die vorsichtige Annäherung möglich machten, vom

europäischen Einigungsprozess bis zu den Ostverträgen. Es waren

Jahrzehnte, in denen Mut und Freiheitsliebe im Osten unseres

Kontinents sich nicht mehr einmauern ließen – bis hin zu jenem

glücklichsten Moment der Befreiung: der Friedlichen Revolution und

der Wiedervereinigung. Diese Jahrzehnte des Ringens mit unserer

Geschichte waren Jahrzehnte, in denen die Demokratie in Deutschland

reifen konnte.

Und dieses Ringen bleibt bis heute. Es gibt kein Ende des

Erinnerns. Es gibt keine Erlösung von unserer Geschichte. Denn ohne

Erinnerung verlieren wir unsere Zukunft.

Nur weil wir Deutsche unserer Geschichte ins Auge sehen, weil

wir die historische Verantwortung annehmen, nur deshalb haben die

Völker der Welt unserem Land neues Vertrauen geschenkt. Und

deshalb dürfen auch wir selbst uns diesem Deutschland anvertrauen.

Darin liegt ein aufgeklärter, demokratischer Patriotismus. Es gibt

keinen deutschen Patriotismus ohne Brüche. Ohne den Blick auf Licht

und Schatten, ohne Freude und Trauer, ohne Dankbarkeit und Scham.

Rabbi Nachman hat gesagt: „Kein Herz ist so ganz wie ein

gebrochenes Herz.“ Die deutsche Geschichte ist eine gebrochene

Geschichte – mit der Verantwortung für millionenfachen Mord und

millionenfaches Leid. Das bricht uns das Herz, bis heute. Deshalb: Man

kann dieses Land nur mit gebrochenem Herzen lieben.

Wer das nicht erträgt, wer einen Schlussstrich fordert, der

verdrängt nicht nur die Katastrophe von Krieg und NS-Diktatur. Der

entwertet auch all das Gute, das wir seither errungen haben – der

verleugnet sogar den Wesenskern unserer Demokratie.

„Die Würde des Menschen ist unantastbar.“ In diesen ersten Satz

unserer Verfassung ist und bleibt für alle sichtbar eingeschrieben, was

in Auschwitz, was in Krieg und Diktatur geschehen ist. Nein, nicht das

Erinnern ist eine Last – das Nichterinnern wird zur Last. Nicht das

Bekenntnis zur Verantwortung ist eine Schande – das Leugnen ist eine

Schande!

Doch was bedeutet unsere historische Verantwortung heute, ein

Dreivierteljahrhundert später? Die Dankbarkeit, die wir heute spüren,

die darf uns nicht bequem machen. Im Gegenteil: Die Erinnerung

fordert und verpflichtet uns!

„Nie wieder!“ – das haben wir uns nach dem Krieg geschworen.

Doch dieses „Nie wieder!“, es bedeutet für uns Deutsche vor allem:

„Nie wieder allein!“ Und dieser Satz gilt nirgendwo so sehr wie in

Europa. Wir müssen Europa zusammenhalten. Wir müssen als

Europäer denken, fühlen und handeln. Wenn wir Europa, auch in und

nach dieser Pandemie, nicht zusammenhalten, dann erweisen wir uns

des 8. Mai nicht als würdig. Wenn Europa scheitert, scheitert auch das

„Nie wieder!“!

Die Weltgemeinschaft hat aus dem „Nie wieder!“ gelernt. Sie hat

nach 1945 die Lehren aus der Katastrophe in ein gemeinsames

Fundament gegossen, in Menschenrechte und Völkerrecht, in Regeln

für Frieden und Zusammenarbeit.

Unser Land, von dem so viel Unheil ausgegangen war, ist über

die Jahre vom Gefährder dieser internationalen Ordnung zu ihrem

Förderer geworden. Wir dürfen nicht zulassen, dass diese

Friedensordnung heute vor unseren Augen zerrinnt. Wir dürfen uns

nicht abfinden mit der Entfremdung von denen, die sie errichtet haben.

Wir wollen mehr und nicht weniger Zusammenarbeit auf der Welt –

auch im Kampf gegen die Pandemie.

„Der 8. Mai war ein Tag der Befreiung.“ Ich glaube: Wir müssen

Richard von Weizsäckers berühmten Satz heute neu und anders lesen.

Damals war dieser Satz ein Meilenstein im Ringen mit unserer

Vergangenheit. Heute aber muss er sich auch an unsere Zukunft

richten. „Befreiung“ ist nämlich niemals abgeschlossen, und sie ist

nichts, was wir nur passiv erfahren, sondern sie fordert uns aktiv,

jeden Tag aufs Neue.

Damals wurden wir befreit. Heute müssen wir uns selbst

befreien!

Befreien von der Versuchung eines neuen Nationalismus. Von der

Faszination des Autoritären. Von Misstrauen, Abschottung und

Feindseligkeit zwischen den Nationen. Von Hass und Hetze, von

Fremdenfeindlichkeit und Demokratieverachtung – denn sie sind doch

nichts anderes als die alten bösen Geister in neuem Gewand. Wir

denken an diesem 8. Mai auch an die Opfer von Hanau, von Halle und

von Kassel. Sie sind durch Corona nicht vergessen!

„Wenn es hier geschehen kann, kann es überall geschehen.“ Das

hat uns der israelische Präsident Reuven Rivlin dieses Jahr am

Holocaust-Gedenktag im Deutschen Bundestag zugerufen. Wenn es

hier geschehen kann, kann es überall geschehen. Doch heute gibt es

niemanden, der uns von diesen Gefahren befreit. Wir müssen es selbst

tun. Wir wurden befreit zu eigener Verantwortung!

Ich weiß wohl: Dieser 8. Mai fällt in Zeiten großer Umbrüche und

großer Ungewissheit. Nicht erst, aber erst recht durch die Corona�Pandemie. Wir wissen heute noch nicht, wie und wann wir aus dieser

Krise herauskommen. Aber wir wissen, mit welcher Haltung wir in sie

hineingegangen sind: mit großem Vertrauen in dieses Land, in unsere

Demokratie und in das, was wir gemeinsam schultern können. Das

zeigt doch, wie unendlich weit wir in 75 Jahren gekommen sind. Und

das gibt mir Hoffnung für alles das, was noch vor uns liegen mag.

Liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger, wir können wegen Corona

nicht gemeinsam erinnern und keine Gedenkveranstaltungen abhalten.

Aber nutzen wir doch die Stille. Halten wir inne.

Ich bitte alle Deutschen: Gedenken Sie heute in Stille der Opfer

des Krieges und des Nationalsozialismus! Befragen Sie – ganz gleich,

wo Ihre Wurzeln liegen mögen – Ihre Erinnerungen, die Erinnerungen

Ihrer Familien, die Geschichte unseres gemeinsamen Landes!

Bedenken Sie, was die Befreiung, was der 8. Mai für Ihr Leben und Ihr

Handeln bedeutet!

75 Jahre nach Kriegsende dürfen wir Deutsche für vieles dankbar

sein. Aber nichts von all dem Guten, das seither gewachsen ist, ist auf

ewig gesichert. Deshalb auch in diesem Sinn: Der 8. Mai war nicht das

Ende der Befreiung – Freiheit und Demokratie sind vielmehr sein

bleibender Auftrag, unser Auftrag!

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