Heute vor 75 Jahren ist in Europa der Zweite Weltkrieg zu Ende
gegangen.
Der 8. Mai 1945 war das Ende der nationalsozialistischen
Gewaltherrschaft, das Ende von Bombennächten und Todesmärschen,
das Ende beispielloser deutscher Verbrechen und des
Zivilisationsbruches der Shoah. Hier in Berlin, wo der
Vernichtungskrieg erdacht und entfesselt worden war und wohin er mit
aller Wucht der Zerstörung zurückkehrte – hier in Berlin wollten wir
heute gemeinsam erinnern.
Wir wollten erinnern – gemeinsam mit Vertretern der Alliierten
aus dem Westen und aus dem Osten, die diesen Kontinent – unter
größten Opfern – befreit haben. Gemeinsam mit unseren Partnern aus
allen Teilen Europas, die unter deutscher Besatzung gelitten haben und
dennoch zur Versöhnung bereit waren. Gemeinsam mit den
Überlebenden deutscher Verbrechen und den Nachfahren der Opfer,
von denen so viele uns die Hand ausgestreckt haben. Gemeinsam mit
all denen auf der Welt, die diesem Land die Chance gegeben haben,
neu anzufangen.
Wir wollten erinnern – auch mit den Älteren in unserem Land, die
jene Zeit selbst erlebt haben. Hunger, Flucht, Gewalt, Vertreibung –
alles das haben sie als Kinder durchlitten. Nach dem Krieg haben sie
dieses Land aufgebaut, im Osten wie im Westen.
Und wir wollten mit den Jüngeren gedenken, die heute, drei
Generationen später, fragen, was die Vergangenheit ihnen eigentlich
noch zu sagen hat – und denen ich zurufe: „Auf euch kommt es an! Ihr
seid es, die die Lehren aus diesem furchtbaren Krieg in die Zukunft
tragen müssen!“ Genau deshalb hatten wir heute tausende Jugendliche
aus aller Welt nach Berlin eingeladen, junge Menschen, deren
Vorfahren Feinde waren und die heute zu Freunden geworden sind.
So wollten wir an diesem 8. Mai gemeinsam erinnern. Doch nun
zwingt uns die Corona-Pandemie, allein zu gedenken – getrennt von
denen, die uns wichtig sind und denen wir dankbar sind.
Vielleicht versetzt uns dieses Alleinsein für einen kurzen Moment
noch einmal zurück an jenen 8. Mai 1945. Denn damals waren die
Deutschen tatsächlich allein. Deutschland war militärisch besiegt,
politisch und wirtschaftlich am Boden, moralisch zerrüttet. Wir hatten
uns die ganze Welt zum Feind gemacht.
Heute, 75 Jahre später, müssen wir allein gedenken – aber: Wir
sind nicht allein! Das ist die glückliche Botschaft des heutigen Tages!
Wir leben in einer starken, gefestigten Demokratie, im dreißigsten Jahr
des wiedervereinten Deutschlands, im Herzen eines friedlichen und
vereinten Europa. Wir genießen Vertrauen und wir ernten die Früchte
von Zusammenarbeit und Partnerschaft rund um die Welt. Ja, wir
Deutsche dürfen heute sagen: Der Tag der Befreiung ist ein Tag der
Dankbarkeit!
Drei Generationen hat es gedauert, bis wir uns dazu aus vollem
Herzen bekennen konnten.
Ja, der 8. Mai 1945 war ein Tag der Befreiung. Aber er war es
noch lange nicht in den Köpfen und Herzen der Menschen.
Die Befreiung war 1945 von außen gekommen. Sie musste von
außen kommen – so tief war dieses Land verstrickt in sein eigenes
Unheil, in seine Schuld. Und auch wirtschaftlicher Wiederaufbau und
demokratischer Neubeginn im Westteil Deutschlands wurden nur
möglich durch die Großzügigkeit, Weitsicht und
Versöhnungsbereitschaft unserer ehemaligen Kriegsgegner.
Doch auch wir selbst haben Anteil an der Befreiung. Es war die
innere Befreiung. Sie geschah nicht am 8. Mai 1945 und nicht an
einem einzigen Tag. Sondern sie war ein langer, schmerzhafter Weg.
Aufarbeitung und Aufklärung über Mitwisserschaft und Mittäterschaft,
quälende Fragen in den Familien und zwischen den Generationen, der
Kampf gegen das Verschweigen und Verdrängen.
Es waren Jahrzehnte, in denen viele Deutsche meiner Generation
erst nach und nach ihren Frieden mit diesem Land gemacht haben. Es
waren auch Jahrzehnte, die bei unseren Nachbarn neues Vertrauen
wachsen ließen, die vorsichtige Annäherung möglich machten, vom
europäischen Einigungsprozess bis zu den Ostverträgen. Es waren
Jahrzehnte, in denen Mut und Freiheitsliebe im Osten unseres
Kontinents sich nicht mehr einmauern ließen – bis hin zu jenem
glücklichsten Moment der Befreiung: der Friedlichen Revolution und
der Wiedervereinigung. Diese Jahrzehnte des Ringens mit unserer
Geschichte waren Jahrzehnte, in denen die Demokratie in Deutschland
reifen konnte.
Und dieses Ringen bleibt bis heute. Es gibt kein Ende des
Erinnerns. Es gibt keine Erlösung von unserer Geschichte. Denn ohne
Erinnerung verlieren wir unsere Zukunft.
Nur weil wir Deutsche unserer Geschichte ins Auge sehen, weil
wir die historische Verantwortung annehmen, nur deshalb haben die
Völker der Welt unserem Land neues Vertrauen geschenkt. Und
deshalb dürfen auch wir selbst uns diesem Deutschland anvertrauen.
Darin liegt ein aufgeklärter, demokratischer Patriotismus. Es gibt
keinen deutschen Patriotismus ohne Brüche. Ohne den Blick auf Licht
und Schatten, ohne Freude und Trauer, ohne Dankbarkeit und Scham.
Rabbi Nachman hat gesagt: „Kein Herz ist so ganz wie ein
gebrochenes Herz.“ Die deutsche Geschichte ist eine gebrochene
Geschichte – mit der Verantwortung für millionenfachen Mord und
millionenfaches Leid. Das bricht uns das Herz, bis heute. Deshalb: Man
kann dieses Land nur mit gebrochenem Herzen lieben.
Wer das nicht erträgt, wer einen Schlussstrich fordert, der
verdrängt nicht nur die Katastrophe von Krieg und NS-Diktatur. Der
entwertet auch all das Gute, das wir seither errungen haben – der
verleugnet sogar den Wesenskern unserer Demokratie.
„Die Würde des Menschen ist unantastbar.“ In diesen ersten Satz
unserer Verfassung ist und bleibt für alle sichtbar eingeschrieben, was
in Auschwitz, was in Krieg und Diktatur geschehen ist. Nein, nicht das
Erinnern ist eine Last – das Nichterinnern wird zur Last. Nicht das
Bekenntnis zur Verantwortung ist eine Schande – das Leugnen ist eine
Schande!
Doch was bedeutet unsere historische Verantwortung heute, ein
Dreivierteljahrhundert später? Die Dankbarkeit, die wir heute spüren,
die darf uns nicht bequem machen. Im Gegenteil: Die Erinnerung
fordert und verpflichtet uns!
„Nie wieder!“ – das haben wir uns nach dem Krieg geschworen.
Doch dieses „Nie wieder!“, es bedeutet für uns Deutsche vor allem:
„Nie wieder allein!“ Und dieser Satz gilt nirgendwo so sehr wie in
Europa. Wir müssen Europa zusammenhalten. Wir müssen als
Europäer denken, fühlen und handeln. Wenn wir Europa, auch in und
nach dieser Pandemie, nicht zusammenhalten, dann erweisen wir uns
des 8. Mai nicht als würdig. Wenn Europa scheitert, scheitert auch das
„Nie wieder!“!
Die Weltgemeinschaft hat aus dem „Nie wieder!“ gelernt. Sie hat
nach 1945 die Lehren aus der Katastrophe in ein gemeinsames
Fundament gegossen, in Menschenrechte und Völkerrecht, in Regeln
für Frieden und Zusammenarbeit.
Unser Land, von dem so viel Unheil ausgegangen war, ist über
die Jahre vom Gefährder dieser internationalen Ordnung zu ihrem
Förderer geworden. Wir dürfen nicht zulassen, dass diese
Friedensordnung heute vor unseren Augen zerrinnt. Wir dürfen uns
nicht abfinden mit der Entfremdung von denen, die sie errichtet haben.
Wir wollen mehr und nicht weniger Zusammenarbeit auf der Welt –
auch im Kampf gegen die Pandemie.
„Der 8. Mai war ein Tag der Befreiung.“ Ich glaube: Wir müssen
Richard von Weizsäckers berühmten Satz heute neu und anders lesen.
Damals war dieser Satz ein Meilenstein im Ringen mit unserer
Vergangenheit. Heute aber muss er sich auch an unsere Zukunft
richten. „Befreiung“ ist nämlich niemals abgeschlossen, und sie ist
nichts, was wir nur passiv erfahren, sondern sie fordert uns aktiv,
jeden Tag aufs Neue.
Damals wurden wir befreit. Heute müssen wir uns selbst
befreien!
Befreien von der Versuchung eines neuen Nationalismus. Von der
Faszination des Autoritären. Von Misstrauen, Abschottung und
Feindseligkeit zwischen den Nationen. Von Hass und Hetze, von
Fremdenfeindlichkeit und Demokratieverachtung – denn sie sind doch
nichts anderes als die alten bösen Geister in neuem Gewand. Wir
denken an diesem 8. Mai auch an die Opfer von Hanau, von Halle und
von Kassel. Sie sind durch Corona nicht vergessen!
„Wenn es hier geschehen kann, kann es überall geschehen.“ Das
hat uns der israelische Präsident Reuven Rivlin dieses Jahr am
Holocaust-Gedenktag im Deutschen Bundestag zugerufen. Wenn es
hier geschehen kann, kann es überall geschehen. Doch heute gibt es
niemanden, der uns von diesen Gefahren befreit. Wir müssen es selbst
tun. Wir wurden befreit zu eigener Verantwortung!
Ich weiß wohl: Dieser 8. Mai fällt in Zeiten großer Umbrüche und
großer Ungewissheit. Nicht erst, aber erst recht durch die Corona�Pandemie. Wir wissen heute noch nicht, wie und wann wir aus dieser
Krise herauskommen. Aber wir wissen, mit welcher Haltung wir in sie
hineingegangen sind: mit großem Vertrauen in dieses Land, in unsere
Demokratie und in das, was wir gemeinsam schultern können. Das
zeigt doch, wie unendlich weit wir in 75 Jahren gekommen sind. Und
das gibt mir Hoffnung für alles das, was noch vor uns liegen mag.
Liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger, wir können wegen Corona
nicht gemeinsam erinnern und keine Gedenkveranstaltungen abhalten.
Aber nutzen wir doch die Stille. Halten wir inne.
Ich bitte alle Deutschen: Gedenken Sie heute in Stille der Opfer
des Krieges und des Nationalsozialismus! Befragen Sie – ganz gleich,
wo Ihre Wurzeln liegen mögen – Ihre Erinnerungen, die Erinnerungen
Ihrer Familien, die Geschichte unseres gemeinsamen Landes!
Bedenken Sie, was die Befreiung, was der 8. Mai für Ihr Leben und Ihr
Handeln bedeutet!
75 Jahre nach Kriegsende dürfen wir Deutsche für vieles dankbar
sein. Aber nichts von all dem Guten, das seither gewachsen ist, ist auf
ewig gesichert. Deshalb auch in diesem Sinn: Der 8. Mai war nicht das
Ende der Befreiung – Freiheit und Demokratie sind vielmehr sein
bleibender Auftrag, unser Auftrag!