Ich beschloß, mit meinem Vater zu reden. Nicht weil
wir uns so nahe gewesen wären. Mein Vater war
verschlossen, konnte weder uns Kindern seine Gefühle
mitteilen noch etwas mit den Gefühlen anfangen, die wir
ihm entgegenbrachten. Lange vermutete ich hinter dem
unmitteilsamen Verhalten einen Reichtum ungehobener
Schätze. Aber später fragte ich mich, ob da überhaupt
etwas war. Vielleicht war er als junge und junger
Mann reich an Gefühlen gewesen und hatte sie, ihnen
keinen Ausdruck gebend, über die Jahre verdorren und
absterben lassen.
Aber gerade wegen der Distanz zwischen uns suchte
ich das Gespräch mit ihm. Ich suchte das Gespräch mit
dem Philosophen, der über Kant und Hegel geschrieben
hatte, von denen ich wußte, daß sie sich mit moralischen
Fragen beschäftigt hatten. Er sollte auch in der Lage sein,
mein Problem abstrakt zu erörtern, und sich, anders als
meine Freunde, nicht an den Defiziten meiner Beispiele
aufhalten.
Wenn wir Kinder unseren Vater sprechen wollten, gab
er uns Termine wie seinen Studenten. Er arbeitete zu
Hause und ging in die Universität nur, um seine Kollegs
und Seminare zu halten. Die Kollegen und Studenten,
die ihn sprechen wollten, kamen zu ihm nach Hause. Ich
erinnere mich an Reihen von Studenten, die im Korridor
an der Wand lehnten und warteten, bis sie an die Reihe
kamen, manche lesend, andere die Stadtansichten
betrachtend, die im Korridor hingen, andere ins Leere
starrend, alle stumm, bis auf einen verlegenen Gruß,
wenn wir Kinder grüßend durch den Flur gingen. Wir
selbst warteten nicht im Flur, wenn unser Vater uns
einen Termin gegeben hatte. Aber auch wir klopften zum
festgesetzten Zeitpunkt an die Tür seines Arbeitszimmers
und wurden hereingerufen.
Ich habe zwei Arbeitszimmer meines Vaters erlebt. Die
Fenster des ersten, in dem Hanna die Bücher mit dem
Finger abgeschritten hat, gingen auf Straßen und Häuser.
Die des zweiten gingen auf die Rheinebene. Das Haus,
in das wir Anfang der sechziger Jahre gezogen und in
dem meine Eltern wohnen geblieben sind, als wir Kinder
groß waren, lag über der Stadt am Hang. Hier wie dort
weiteten die Fenster den Raum nicht in die Welt draußen,
sondern hängten diese in das Zimmer wie Bilder. Das
Arbeitszimmer meines Vaters war ein Gehäuse, in
dem die Bücher, Papiere, Gedanken und der Pfeifen�
und Zigarrenrauch eigene, von denen der Außenwelt
verschiedene Druckverhältnisse geschaffen hatten. Sie
waren mir zugleich vertraut und fremd.
Mein Vater ließ mich mein Problem präsentieren, in der
abstrakten Fassung und mit den Beispielen. »Es hat mit
dem Prozeß zu tun, nicht wahr?« Aber er schüttelte den
Kopf, um mir zu bedeuten, daß er keine Antwort erwarte,
nicht in mich dringen, von mir nichts wissen wolle, was
ich nicht von mir aus sagte. Dann saß er, den Kopf zur
Seite geneigt, mit den Händen die Armlehnen festhaltend,
und dachte nach. Er sah mich nicht an. Ich betrachtete
ihn, sein graues Haar, seine wie immer schlecht rasierten
Backen, die scharfen Falten zwischen den Augen und von
den Nasenflügeln zu den Mundwinkeln. Ich wartete.
Als er redete, holte er weit aus. Er belehrte mich über
Person, Freiheit und Würde, über den Menschen als
Subjekt und darüber, daß man ihn nicht zum Objekt
machen dürfe. »Erinnerst du dich nicht mehr, wie es dich
als kleinen Jungen empören konnte, wenn Mama besser
wußte als du, was für dich gut war? Schon wieweit man
das bei Kindern tun darf, ist ein wirkliches Problem. Es
ist ein philosophisches Problem, aber die Philosophie
kümmert sich nicht um die Kinder. Sie hat sie der
Pädagogik überlassen, wo sie schlecht aufgehoben sind.
Die Philosophie hat die Kinder vergessen«, er lächelte
mich an, »für immer vergessen, nicht nur für manchmal,
wie ich euch.«
»Aber…«
»Aber bei Erwachsenen sehe ich schlechterdings
keinerlei Rechtfertigung dafür, das, was ein anderer für
sie für gut hält, über das zu setzen, was sie selbst für sich
für gut halten.«
»Auch nicht, wenn sie später selbst glücklich damit
sind?«
Er schüttelte den Kopf. »Wir reden nicht über Glück,
sondern über Würde und Freiheit. Schon als kleiner
Junge hast du den Unterschied gekannt. Es hat dich nicht
getröstet, daß Mama immer recht hatte.«
Heute denke ich gerne an das Gespräch mit meinem
Vater zurück. Ich hatte es vergessen, bis ich nach seinem
Tod begann, im Bodensatz der Erinnerung nach schönen
Begegnungen, Erlebnissen und Erfahrungen mit ihm zu
suchen. Als ich es fand, betrachtete ich es verwundert und
beglückt. Damals war ich zunächst verwirrt von meines
Vaters Mischung aus Abstraktion und Anschaulichkeit.
Aber schließlich machte ich mir auf das, was er gesagt
hatte, den Reim, daß ich nicht mit dem Richter reden
mußte, daß ich gar nicht mit ihm reden durfte, und war
erleichtert.
Mein Vater sah es mir an. »So gefällt dir die
Philosophie?«
»Naja, ich wußte nicht, ob man in der Situation, die
ich beschrieben habe, handeln muß, und war eigentlich
nicht glücklich mit der Vorstellung, daß man muß,
und wenn man nun gar nicht handeln darf – ich finde
das…« Ich wußte nicht, was sagen. Erleichternd?
Beruhigend? Angenehm? Das klang nicht nach Moral
und Verantwortung. Ich finde es gut, klang moralisch und
verantwortlich, aber ich konnte nicht sagen, daß ich es
gut, daß ich es mehr als nur erleichternd fand.
»Angenehm?« schlug mein Vater vor.
Ich nickte mit dem Kopf und zuckte mit den Schultern.
»Nein, dein Problem hat keine angenehme Lösung.
Natürlich muß man handeln, wenn die von dir
beschriebene Situation eine Situation zugewachsener
oder übernommener Verantwortung ist. Wenn man weiß,
was für den anderen gut ist und daß er die Augen davor
verschließt, muß man versuchen, ihm die Augen zu öffnen.
Man muß ihm das letzte Wort lassen, aber man muß
mit ihm reden, mit ihm, nicht hinter seinem Rücken mit
jemand anderem.«
Mit Hanna reden? Was sollte ich ihr sagen? Daß ich
ihre Lebenslüge durchschaut hatte? Daß sie drauf und
dran war, ihr ganzes Leben dieser dummen Lüge zu
opfern? Daß die Lüge das Opfer nicht wert war? Daß
sie darum kämpfen sollte, nicht länger als nötig ins
Gefängnis zu müssen, um danach noch viel mit ihrem
Leben anzufangen? Was eigentlich? Ob viel, etwas
oder wenig – was sollte sie mit ihrem Leben anfangen?
Konnte ich ihr ihre Lebenslüge wegnehmen, ohne ihr
eine Lebensperspektive zu eröffnen? Ich wußte keine
langfristige, und ich wußte auch nicht, wie ich ihr
gegenübertreten und sagen sollte, es sei schon richtig, daß
nach dem, was sie getan hatte, ihre Lebensperspektive
kurz- und mittelfristig Gefängnis heißen würde. Ich
wußte nicht, wie ich ihr gegenübertreten und irgend
etwas sagen sollte. Ich wußte überhaupt nicht, wie ich ihr
gegenübertreten sollte.
Ich fragte meinen Vater: »Und was ist, wenn man nicht
mit ihm reden kann?«
Er sah mich zweifelnd an, und ich wußte selbst, daß
die Frage neben der Sache lag. Es gab nichts mehr zu
moralisieren. Ich mußte mich nur noch entscheiden.
»Ich habe dir nicht helfen können.« Mein Vater stand
auf und ich auch. »Nein, du mußt nicht gehen, mir tut
nur der Rücken weh.« Er stand krumm, die Hände auf die
Nieren gepreßt. »Ich kann nicht sagen, daß es mir leid tut,
daß ich dir nicht helfen kann. Als der Philosoph, meine
ich, als den du mich gefragt hast. Als Vater finde ich die
Erfahrung, meinen Kindern nicht helfen zu können,
schier unerträglich.«
Ich wartete, aber er redete nicht weiter. Ich fand, er
mache es sich leicht; ich wußte, wann er sich mehr um
uns hätte kümmern und wie er uns mehr hätte helfen
können. Dann dachte ich, daß er das vielleicht selbst weiß
und wirklich schwer daran trägt. Aber so oder so konnte
ich ihm nichts sagen. Ich wurde verlegen und hatte das
Gefühl, daß auch er verlegen war.
»Ja, dann…«
»Du kannst jederzeit kommen.« Mein Vater sah mich
an.
Ich glaubte ihm nicht und nickte.