ZWEITER TEIL 12

Ich beschloß, mit meinem Vater zu reden. Nicht weil

wir uns so nahe gewesen wären. Mein Vater war

verschlossen, konnte weder uns Kindern seine Gefühle

mitteilen noch etwas mit den Gefühlen anfangen, die wir

ihm entgegenbrachten. Lange vermutete ich hinter dem

unmitteilsamen Verhalten einen Reichtum ungehobener

Schätze. Aber später fragte ich mich, ob da überhaupt

etwas war. Vielleicht war er als junge und junger

Mann reich an Gefühlen gewesen und hatte sie, ihnen

keinen Ausdruck gebend, über die Jahre verdorren und

absterben lassen.

Aber gerade wegen der Distanz zwischen uns suchte

ich das Gespräch mit ihm. Ich suchte das Gespräch mit

dem Philosophen, der über Kant und Hegel geschrieben

hatte, von denen ich wußte, daß sie sich mit moralischen

Fragen beschäftigt hatten. Er sollte auch in der Lage sein,

mein Problem abstrakt zu erörtern, und sich, anders als

meine Freunde, nicht an den Defiziten meiner Beispiele

aufhalten.

Wenn wir Kinder unseren Vater sprechen wollten, gab

er uns Termine wie seinen Studenten. Er arbeitete zu

Hause und ging in die Universität nur, um seine Kollegs

und Seminare zu halten. Die Kollegen und Studenten,

die ihn sprechen wollten, kamen zu ihm nach Hause. Ich

erinnere mich an Reihen von Studenten, die im Korridor

an der Wand lehnten und warteten, bis sie an die Reihe

kamen, manche lesend, andere die Stadtansichten

betrachtend, die im Korridor hingen, andere ins Leere

starrend, alle stumm, bis auf einen verlegenen Gruß,

wenn wir Kinder grüßend durch den Flur gingen. Wir

selbst warteten nicht im Flur, wenn unser Vater uns

einen Termin gegeben hatte. Aber auch wir klopften zum

festgesetzten Zeitpunkt an die Tür seines Arbeitszimmers

und wurden hereingerufen.

Ich habe zwei Arbeitszimmer meines Vaters erlebt. Die

Fenster des ersten, in dem Hanna die Bücher mit dem

Finger abgeschritten hat, gingen auf Straßen und Häuser.

Die des zweiten gingen auf die Rheinebene. Das Haus,

in das wir Anfang der sechziger Jahre gezogen und in

dem meine Eltern wohnen geblieben sind, als wir Kinder

groß waren, lag über der Stadt am Hang. Hier wie dort

weiteten die Fenster den Raum nicht in die Welt draußen,

sondern hängten diese in das Zimmer wie Bilder. Das

Arbeitszimmer meines Vaters war ein Gehäuse, in

dem die Bücher, Papiere, Gedanken und der Pfeifen�

und Zigarrenrauch eigene, von denen der Außenwelt

verschiedene Druckverhältnisse geschaffen hatten. Sie

waren mir zugleich vertraut und fremd.

Mein Vater ließ mich mein Problem präsentieren, in der

abstrakten Fassung und mit den Beispielen. »Es hat mit

dem Prozeß zu tun, nicht wahr?« Aber er schüttelte den

Kopf, um mir zu bedeuten, daß er keine Antwort erwarte,

nicht in mich dringen, von mir nichts wissen wolle, was

ich nicht von mir aus sagte. Dann saß er, den Kopf zur

Seite geneigt, mit den Händen die Armlehnen festhaltend,

und dachte nach. Er sah mich nicht an. Ich betrachtete

ihn, sein graues Haar, seine wie immer schlecht rasierten

Backen, die scharfen Falten zwischen den Augen und von

den Nasenflügeln zu den Mundwinkeln. Ich wartete.

Als er redete, holte er weit aus. Er belehrte mich über

Person, Freiheit und Würde, über den Menschen als

Subjekt und darüber, daß man ihn nicht zum Objekt

machen dürfe. »Erinnerst du dich nicht mehr, wie es dich

als kleinen Jungen empören konnte, wenn Mama besser

wußte als du, was für dich gut war? Schon wieweit man

das bei Kindern tun darf, ist ein wirkliches Problem. Es

ist ein philosophisches Problem, aber die Philosophie

kümmert sich nicht um die Kinder. Sie hat sie der

Pädagogik überlassen, wo sie schlecht aufgehoben sind.

Die Philosophie hat die Kinder vergessen«, er lächelte

mich an, »für immer vergessen, nicht nur für manchmal,

wie ich euch.«

»Aber…«

»Aber bei Erwachsenen sehe ich schlechterdings

keinerlei Rechtfertigung dafür, das, was ein anderer für

sie für gut hält, über das zu setzen, was sie selbst für sich

für gut halten.«

»Auch nicht, wenn sie später selbst glücklich damit

sind?«

Er schüttelte den Kopf. »Wir reden nicht über Glück,

sondern über Würde und Freiheit. Schon als kleiner

Junge hast du den Unterschied gekannt. Es hat dich nicht

getröstet, daß Mama immer recht hatte.«

Heute denke ich gerne an das Gespräch mit meinem

Vater zurück. Ich hatte es vergessen, bis ich nach seinem

Tod begann, im Bodensatz der Erinnerung nach schönen

Begegnungen, Erlebnissen und Erfahrungen mit ihm zu

suchen. Als ich es fand, betrachtete ich es verwundert und

beglückt. Damals war ich zunächst verwirrt von meines

Vaters Mischung aus Abstraktion und Anschaulichkeit.

Aber schließlich machte ich mir auf das, was er gesagt

hatte, den Reim, daß ich nicht mit dem Richter reden

mußte, daß ich gar nicht mit ihm reden durfte, und war

erleichtert.

Mein Vater sah es mir an. »So gefällt dir die

Philosophie?«

»Naja, ich wußte nicht, ob man in der Situation, die

ich beschrieben habe, handeln muß, und war eigentlich

nicht glücklich mit der Vorstellung, daß man muß,

und wenn man nun gar nicht handeln darf – ich finde

das…« Ich wußte nicht, was sagen. Erleichternd?

Beruhigend? Angenehm? Das klang nicht nach Moral

und Verantwortung. Ich finde es gut, klang moralisch und

verantwortlich, aber ich konnte nicht sagen, daß ich es

gut, daß ich es mehr als nur erleichternd fand.

»Angenehm?« schlug mein Vater vor.

Ich nickte mit dem Kopf und zuckte mit den Schultern.

»Nein, dein Problem hat keine angenehme Lösung.

Natürlich muß man handeln, wenn die von dir

beschriebene Situation eine Situation zugewachsener

oder übernommener Verantwortung ist. Wenn man weiß,

was für den anderen gut ist und daß er die Augen davor

verschließt, muß man versuchen, ihm die Augen zu öffnen.

Man muß ihm das letzte Wort lassen, aber man muß

mit ihm reden, mit ihm, nicht hinter seinem Rücken mit

jemand anderem.«

Mit Hanna reden? Was sollte ich ihr sagen? Daß ich

ihre Lebenslüge durchschaut hatte? Daß sie drauf und

dran war, ihr ganzes Leben dieser dummen Lüge zu

opfern? Daß die Lüge das Opfer nicht wert war? Daß

sie darum kämpfen sollte, nicht länger als nötig ins

Gefängnis zu müssen, um danach noch viel mit ihrem

Leben anzufangen? Was eigentlich? Ob viel, etwas

oder wenig – was sollte sie mit ihrem Leben anfangen?

Konnte ich ihr ihre Lebenslüge wegnehmen, ohne ihr

eine Lebensperspektive zu eröffnen? Ich wußte keine

langfristige, und ich wußte auch nicht, wie ich ihr

gegenübertreten und sagen sollte, es sei schon richtig, daß

nach dem, was sie getan hatte, ihre Lebensperspektive

kurz- und mittelfristig Gefängnis heißen würde. Ich

wußte nicht, wie ich ihr gegenübertreten und irgend

etwas sagen sollte. Ich wußte überhaupt nicht, wie ich ihr

gegenübertreten sollte.

Ich fragte meinen Vater: »Und was ist, wenn man nicht

mit ihm reden kann?«

Er sah mich zweifelnd an, und ich wußte selbst, daß

die Frage neben der Sache lag. Es gab nichts mehr zu

moralisieren. Ich mußte mich nur noch entscheiden.

»Ich habe dir nicht helfen können.« Mein Vater stand

auf und ich auch. »Nein, du mußt nicht gehen, mir tut

nur der Rücken weh.« Er stand krumm, die Hände auf die

Nieren gepreßt. »Ich kann nicht sagen, daß es mir leid tut,

daß ich dir nicht helfen kann. Als der Philosoph, meine

ich, als den du mich gefragt hast. Als Vater finde ich die

Erfahrung, meinen Kindern nicht helfen zu können,

schier unerträglich.«

Ich wartete, aber er redete nicht weiter. Ich fand, er

mache es sich leicht; ich wußte, wann er sich mehr um

uns hätte kümmern und wie er uns mehr hätte helfen

können. Dann dachte ich, daß er das vielleicht selbst weiß

und wirklich schwer daran trägt. Aber so oder so konnte

ich ihm nichts sagen. Ich wurde verlegen und hatte das

Gefühl, daß auch er verlegen war.

»Ja, dann…«

»Du kannst jederzeit kommen.« Mein Vater sah mich

an.

Ich glaubte ihm nicht und nickte.

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