Schwalben über Schlesien

Kapitel 1: Transit

Transitstrecke, Sachsen vor Görlitz, 27. Mai 1976. Eingequetscht saß ich gemeinsam mit meiner Schwester hinten in dem bis unters Dach mit Decken und Dosen vollgepackten VW-Käfer mit dem Kennzeichen HE-A-42. Die Dunkelheit umhüllte bereits schon seit mehreren Stunden die weiten Felder abseits der Transitstrecke. Das durchgängige Rattern der Fugen zwischen den Panzerplatten hielt mich weiterhin erfolgreich vom doch so wertvollen Schlaf ab. Im Halbschlaf nahm ich die anhaltenden besorgten Worte Mutters wahr, mit denen sie meinem Vater regelrecht bombardierte. Sind alle Papier in Ordnung? Wird der Transit über die Staatsgrenze funktionieren? Probleme, die sich im Augenblick sowieso nicht lösen ließen. Mutter ist heute noch so. Nie schlief sie ein, weil sie sich schon Sorgen um die Probleme des nächsten Tages machte. Obwohl der Käfer derartig eng, und nebenbei bis weit über die maximal zulässige Zuladung des Fahrzeugs vollgeladen war, verstand ich ihre Worte durch den ganzen Krempel zwischen uns dumpf aber doch klar und deutlich. Ohne ihn sehen zu können, wusste ich bereits wie Vater reagieren würde. Ruhig und ohne Widerworte fuhr er den Käfer über die breite, bis auf uns völlig seelenlose Schnellstraße. Wie halluziniert von den dunkel orangen leuchtenden immer wieder aufhellenden DDR-Glühbirnen über der Straße starrte ich ununterbrochen aus dem Fenster. Ab und zu sah ich Militärfahrzeuge auf der gegenüberliegenden Fahrseite. Das warme aber dunkle Licht erhellte jede fünfhundert Meter kurz das Innere unseres Autos. Meine zwei Jahre jüngere Schwester schlief bereits. Mich nervte das. Wie konnte man nur unter diesem ganzen Krempel ein Auge zudrücken. Ich wollte doch schlafen. Aber jeder einzelne Ruck, der bei der Überfahrt über die Fugen der Panzerplatten entstand, war derartig vehement, dass man den Kopf nicht in einer angenehmen Position hätte halten können. Am Sitz vorbei konnte ich über den Seitenspiegel des Käfers kurz einen Blick auf meinen Vater erhaschen. Als ältester von fünf hatte er nach dem Krieg für seine jüngeren Geschwister sorgen müssen. Er baute ihnen kurz hinter der deutsch-deutschen Grenze in einer damals neu aus dem Boden gestampften Industriestadt ein besseres Leben auf. Nur zehn Jahre alt war er damals gewesen. Sein Vater entschied sich für die Seite des Wahnsinns, für die des Verbrechens, für die des Todes. Mein Vater hatte keinen Vater mehr, ich hatte keinen Opa. Er konnte sich noch sehr gut an die Vergangenheit erinnern. Erinnerungen, die er bis zum Ende in seinem Innersten einschloss. Eine Geschichte, die erzählt werden musste. Eine Geschichte, ohne die wir keine Ruhe finden würden. Eine Geschichte, die hier nur unmöglich zu Ende erzählt werden kann. Ihr Ende war offen. Ihre Fragmente unvollständig. Die fehlenden Puzzleteile tief unter der Erde begraben. Sie wurden nie zu Papier gebracht. Lediglich Erinnerungen, die wie ein Tumor auf die Seelen derjenigen presste, die sich dazu entschieden, sie in sich aufzubewahren. Zum Schluss würden sie all diejenigen in die Knie zwingen, die diesen Versuch unternähmen. Von zunehmender Müdigkeit geplagt, gelang es mir schließlich zu schlafen. Ich schlief fest. Allein die unzähligen Lichtsirenen des DDR-Grenzübergangs rissen mich schlussendlich aus meinem wohlgefundenen Schlaf. Eine knappe Stunde sollte es dauern, bis die Volkspolizisten alle unsere Dokumente kontrolliert hatten und wir unseren Weg in die Volksrepublik fortsetzen durften. In Richtung der alten Heimat meiner Eltern…


Kapitel 2

Breslau, Niederschlesien, 9. Juli 1942. Es war ein durchaus schöner, sonniger Tag in der Stadt. Meine Mutter schickte mich auf die Straße gegenüber unserer Konditorei, um frisches Mehl von den Bauern aus dem Umland zu erwerben. Sie schickte immer nur mich. Kleinen Buben gab man eher etwas zu einem günstigeren Preis, als alten Müttern, sagte sie. Ich hätte mehr Charme, sagte sie. Der Ring war an diesem Tage voller zahlreicher Bauern und Händler. Markt war es an diesem Tage. Die Menschen kamen aus ganz Schlesien in die Stadt. Frauen, Kinder, sowie auch ältere Männer trieb es an diesem herrlichen Sommertag nach Breslau. Der Krieg ging mittlerweile schon drei ganze Jahre lang. Hier, in der Stadt, bekamen wir davon aber nicht so viel mit. Durch den hochrangigen Besuch der bisweilen zu uns in das Café kam, hatten wir wenig Geldsorgen. Auch die schlesischen Bauern wurden von den wirtschaftlichen Auswirkungen des Krieges noch nicht ernsthaft getroffen. So konnte man sich an diesem so besonderem Tage im Juli an einem reichen Angebot an frischen Sommerfrüchten erfreuen. Lebensfroh auf die Straße tollend, erfasste mich nichtsahnend das grelle Sonnenlicht und nahm mir für einen kurzen Atemzug mein ach so junges Augenlicht. Nur um Haaresbreite wich ich den beiden direkt auf mich zu peitschenden schwarzen Fahrzeugen aus. Der uniformierte Herr im Vordersten bemerkte mein Ungeschick. Wie zu dieser Zeit im Umgang mit uns Kindern üblich, ließ der Mann mich umgehend durch seinen bloßen, von Strenge nur so strahlenden Blickkontakt wissen, dass mir anscheinend gewisse Tugenden nie beigebracht worden waren. Doch bevor er mir verbal eine Lektion in Sachen Disziplin erteilen konnte, kam von hinten mit einem ohrenbetäubenden Bimmeln und Fluchen des Zugführers die Breslauer Straßenbahn angetuckert. Selbst fluchend und schimpfend fuhr der uniformierte Mann abrupt weiter, wobei er gerade noch so eine Kollision mit dem offenbar unter keinen Umständen zum Halten angelegtem Straßenbahnfahrer vermeiden konnte. So viele Menschen auf dem Ring war selbst ich nicht gewohnt. Dabei hatten wir unsere Wohnung direkt über dem Café. Als Städter war der Markt draußen unser Wohnzimmer. Wer noch nie zuvor von dem Ort „der Ring“ gehört hatte, dem muss gesagt sein, er ist wahrlich wunderschön. Der Ring hieß Ring, weil der große Markt ringartig, um die alten Rathausgebäude herum gebaut worden waren. Mutter kannte hier ausnahmslos jeden Stock und jeden Stein. In nahezu jedem Haus auf dem Ring hatten wir Freund, beziehungsweise teils sogar Familie. An jenem Tag am Abend kamen wie so oft einige Kinder aus den umliegenden Häusern am Ring zu uns. Vater würde heute nach Hause kommen, um ein wichtiges Treffen in unserer Konditorei abzuhalten. Mutter war dann immer sehr mit der Leitung des Geschäfts beschäftigt. Ich durfte währenddessen oben in der gesamten Etage mit meinen Freunden spielen, vorausgesetzt natürlich wir würden die sehr wichtig aussehenden Männer nicht durch unseren Lärm belästigen. Artige Söhne sollten wir sein. Draußen auf dem Ring winkte mich Anne, Tochter des im ganzen Land bekanntesten Neustädter Getreidebauers, bereits mit einem mütterlichen Lächeln hinüber zu ihrem Stand auf der anderen Seite der durch die Gleise der Straßenbahn gespaltenen Marktstraße. Das Treiben der Leute machte es mir schwierig einen geeigneten Übergang zu finden. Die Geschwindigkeit, der für mich teils durch ihre Größe bedrohlich wirkenden Bahn, war für mich als kleinen Jungen noch nicht gut einzuschätzen. Mutter wusste das, mahnte mich deshalb jedes Mal beim Verlassen des Hauses zur Vorsicht. Während ich das rege Treiben auf dem Markt im Auge behielt, fasste ich mir ein Herz und lief flott über die Kopfsteinpflaster zu der fünfköpfigen Straßenlaterne dreißig Meter weiter. Von dort aus huschte ich geschwind und flink durch die übrigen dicht aneinander gereihten Stände auf dem Markt. Das Angebot war für die damalige Zeit fast schon luxuriös. Luftangriffe und Bombardements mussten wir nicht fürchten. Die Stadt lag zu weit östlich. Keine Chance, dass die Briten derartig weit mit ihren Fliegern kamen. Der Krieg war generell für uns nicht sehr präsent. Ja, Vater war weg, so wie viele anderen Väter meiner Freunde. Aber das waren sie schon lange. Für ein kleines Kind sind drei Jahre jedoch eine Ewigkeit. Rückblickend kann ich mich an die Zeit mit meinem Vater vor dem Krieg nur sehr schleierhaft erinnern. Ab und zu kehrte er nach Hause zurück. Nicht selten fuhren wir dann gemeinsam mit dem Fahrrad an der Oder entlang. Dafür waren die Alten noch für uns da. Mit ihnen hatten wir auch immer unseren Spaß. Sie genossen es ebenfalls uns Kinder nach der Schulzeit auf verschiedene Art und Weisen zu unterhalten. Anne war noch ziemlich jung. Ob sie fünfzehn oder sechzehn war, kann ich nicht mehr genau sagen. Sie hatte bereits im sehr jungen Alter bei ihrer Familie auf einem Bauernhof nahe Neustadt arbeiten müssen. Wir verließen die Stadt nur sehr selten, einen Bauernhof hatte ich zu dieser Zeit noch nie gesehen. Sie trug die Tracht einer jungen Magd, war attraktiv schlank und hatte ein bezaubernd hübsches Gesicht. Auf dem Kopf trug sich ein Tuch, das ihre dunkelblonden Haare bis auf ihren Pony verdeckte. Sie war nicht immer hier, wenn Markt war. Mutter schickte nur mich auf den Markt, weil sie stets davon ausging, dass im Gegensatz zu Anne ihre Tante vor Ort sein würde, um die Geschäfte zu führen. Sie war deutlich strenger und achtete auf jeden Pfennig. Sie hatte eine kräftige, kurze Statur und war nie besonders freundlich. An diesem Tage war ich ganz froh, dass ich mich mit Anne noch ein bisschen unterhalten und ihr von der Schule erzählen konnte. Sie stand vor ihrem mit einer braunen Lederplane abgedecktem Karren. Auf dem Karren lagerte der Berg von weißem Mehl. Das beste Mehl in ganz Schlesien. Unsere war schließlich auch die beste Konditorei. Daher musste das Mehl aus Neustadt kommen. Als sie mich vor ihr stehen sah lächelte sie mir behütend zu. "Hat deine Mutter dich wieder alleine geschickt? Hatten die anderen Knaben bei euch in der Küche etwa alle Hände voll zu tun?" "Ja, wir haben im Moment viel zu tun, mein Vater kommt heute Abend wieder und da müssen wir einiges vorbereiten. Ich schaffe das aber auch alleine, dann laufe ich eben dreimal." antwortete ich ihr. "Ihr aus der Stadt.“ seufzte sie. „Alles könnt ihr in zwei Minuten zu Fuß erledigen. Wir haben zwei Tage gebraucht um nach Brassel zu kommen. Du kannst den ersten Sack vollmachen, das Geld gib mir zum Schluss. Ich hoffe dein Vater kommt mit guten Neuigkeiten wieder zurück aus Danzig." Vater hatte in Danzig einen Einsatz geleitet. Nach solch einem Einsatz kam er immer für ein paar Tage nach Hause und fuhr dann wieder weiter. Wo er als nächstes hin musste das wussten wir zu diesem Zeitpunkt noch nicht. Dreimal lief ich also hin und zurück durch die vielen Menschen, über die Kopfsteinpflaster und über die Schienen der Breslauer Straßenbahn. Fest umklammerte ich den Sack Mehl mit beiden Armen und presste ihn fest an meinen Oberkörper. Es waren zwar nur circa vierzig Meter bis zu uns in die Küche, jedoch fingen jeweils auf der Hälfte der Strecke meine Arme unter der Anstrengung an zu brennen und zwangen mich zu einer kurzen Verschnaufpause. Als ich nun doch alle Säcke erfolgreich nach Hause getragen und Anne ihr Geld gegeben hatte, sah ich gerade noch nach Mutter, die in der Küche die Leckereien vorbereitete. Gewieft stibitzten wir hier und da ein süßes Teilchen und hetzten dann die lange verzierte Treppe aus dunklem Holz hoch in die Wohnung...


Wir besaßen eine äußerst schicke Stadtvilla am Ring. Wenn man durch die Tür eintrat, fiel einem sofort die besonders hohe Decke sowie die breite verzierte Treppe an der Seite auf. Unten wo die Leute saßen konnte man bis unters Dach gucken. Gute dreißig Meter befanden sich zwischen Boden und Decke. Dadurch hatte das Etablissement fast schon einen majestätischen Charme. Die Treppe ging geradeaus links an der Wand des Gebäudes nach oben und machte dort dann eine neunzig Grad Kurve nach rechts. Dort befand sich unser Flur. Links und rechts entlang des Flures befanden sich dann die Türen zu den verschiedenen Zimmern, in denen wir wohnten. Der Flur war eher eine Art Balkon. Von da aus konnte man, wenn man groß genug war über das Gelände oder auch zwischen dem dicken Steingeländer hindurch, auf die Geschehnisse unten im Café blicken. Unsere Zimmer unterschieden sich jedoch auch stark von dem restlichen Gebäude. Sie waren schlicht eingerichtet und zusätzlich auch noch ziemlich klein. Wir gingen nur zum Schlafen nach oben, oder wenn uns unsere Eltern für den wichtigen Besuch kurz parken mussten. Ich schlief mit meinen drei Geschwistern in einem Zimmer. In einem anderen nächtigten meine Eltern oder beziehungsweise jetzt Mutter, da Vater ja nicht oft Zuhause war. Das dritte Zimmer war stets im Gebrauch von Knaben, die bei uns in der Küche arbeiteten. Doch im Moment war das Zimmer leer. Heute würden keine meiner Freunde zum Spielen kommen. Mutter hatte sich auf Andrang meines Vaters nochmals umentschieden, Ich sah meinen Vater heute nur kurz. Ich konnte spüren, dass er äußerst gestresst und angespannt war. In den wenigen Worte, die er mit uns wechselte tadelte er uns oder gab uns Anweisungen, wie das alles hier zu laufen habe. Die Konditorei hatte sich heute besonders herausgeputzt. Mutter hatte Blumen frisch für diesen Anlass gepflückt, jede Glühbirne ausgetauscht und die dutzenden Portraits an den Wänden zurechtgerückt. Es waren sogar einige neue aufgehängt worden. Die Männer auf den Bildern in Uniform, kannte ich nicht. Vielleicht passte ich in der Schule aber auch einfach nicht genug auf. Für den Anlass hatte meine Mutter die Tische im Café umgestellt. Einige hatte sie sogar aufgrund kleiner, teilweise nur mit einer Lupe erkennbaren, Kratzern neu gekauft. Gen Anbruch des Abends schaute ich hinunter vom Balkon der Steintreppe auf die zahlreichen aufgebauten Stehtische. Unsere für die normale Kundschaft gedachten kleinen Cafétische hatten die Knaben vorher in eine Abstellkammer neben der Küche gestellt. Die Stehtische waren so angeordnet, dass in der Mitte der Konditorei eine Art Gang frei war. Auf der nun freien Fläche war ein roter Teppich ausgerollt. Im ganzen Haus, in jeder Ecke, auf jedem Tisch standen unterschiedlichste Blumensträuße, die natürlich alle wunderbar zur restlichen Einrichtung des Cafés passten. So herausgeputzt hatte ich unser Haus noch nie gesehen. Heute musste etwas sehr Wichtiges passieren. Dreiviertel sieben war es schon. Meine Mutter hatte uns Kinder auf die Zimmer nach oben geschickt. Ich jedoch wollte mein neues Buch, welches mir ein älterer Mann noch das Wochenende zuvor beim Angeln geschenkt hatte, unbedingt weiterlesen. Das Buch handelte von einem Wal der Menschen fraß, sowie von einem Fischer, der den Wal letztendlich erlegte. Das Leben auf hoher See fand ich spannend. Der unendlich weite Ozean, den es zu erkunden galt. Grenzenlose Freiheit, weit weg von der Enge der Stadt. Und so saß ich im Schlafzimmer meiner Eltern. Ich war so fasziniert von der Geschichte, dass ich das Buch viele Male lesen musste. Mutter wusste gar nicht, dass ich so ein Buch überhaupt besaß. Was sie wohl darüber denken würde? Immerhin war es ein ausländisches Buch. Der alte Mann an der Oder sagte mir, es sei unser kleines Geheimnis und ich solle es ja für mich behalten. Im Einband des Buches stand eine Art Danksagung in ausländischer Sprache. Ich dachte zumindest, es sei eine Danksagung. Heute kann ich nicht mehr genau sagen, welches Geheimnis sich tatsächlich dahinter verbarg. Bei der Flucht verlor ich den mir durchaus ans Herz gewachsenen Gegenstand. Ein Leben lang würde ich beim Gedanken an diesen unglücklichen Zufall kurz eine innerliche Träne verdrücken. Das Buch lag seit diesem Tage jede Nacht in meinem Bett neben meinem Kopfkissen. Jeden Tag las ich ein paar weitere Seiten. Heute hatte ich mir vorgenommen wieder ein Kapitel zu lesen. Zehn vor sieben war es bereits. Ich hörte wie die vielen Menschen unten in unser Café strömten. Viele Männer begrüßten sich laut und deutlich mit den damals gängigen Grußworten. Frauenstimmen hörte ich nicht heraus. Neugierig stand ich vom Bett auf und versuchte an der Zimmertür zu horchen. Aus dem Getümmel von Stimmen meinte ich die meines Vaters klar und deutlich herauszuhören. Jeden Gruß seiner Gäste erwiderte er mit dem selbigen. Kurz vor sieben war es am lautesten. Ich nutzte die Gelegenheit, geräuschlos die Tür und huschte unbemerkt von jeglichen Blicken an ihr vorbei hinter die breiten Steingitterstäbe unseres Treppenbalkons. Von dort aus hatte ich einen perfekten Überblick über die Geschehnisse unten im Saal. Viele der Gäste standen schon an den extra dafür vorbereiteten Stehtischen und tranken. Sie alle trugen braune oder schwarze Uniformen. Auf den Uniformen waren beim genaueren Hinsehen vielen bunte Anstecker angebracht. Vater trug auch solch einen Anzug. Gespannt sah ich ihm zu wie er ein Messer vom Tisch nah, es gegen sein Weinglas klingen ließ und so die Gemeinschaft zur Ruhe aufforderte. "Liebe Freunde, liebe Parteigenossen, liebe Deutsche. Wir haben uns heute hier versammelt, um Ehrungen zu verteilen, um Abschied zu nehmen und um uns ein letztes Mal vorzubereiten auf den glorreichen Sieg, den wir in den kommenden Wochen an der Ostfront erleben werden. Das deutsche Volk hat gesiegt. Gegen alle seine Unterdrücker. Gegen all das Ungeziefer in Europa. Wir werden in der Zukunft über diesen Kontinent herrschen. Allen Deutschen soll dies bewusst sein. Unser Blut bedeutet Macht. Ich bin überaus freudig darüber, Generalleutnant Fischer, der am heutigen Tage aus Kiew zu uns zurückgekehrt ist, willkommen heißen zu dürfen. Er wird uns später von seinem glorreichen Sieg berichten. Seine Dienste für das deutsche Volk wollen wir in Ehren tragen. Wir werden ihm an diesem Abend die Ehre erteilen, von nun an 'Volksheld und Verteidiger Schlesiens' zu sein. Meine Freunde, bald werden auch wir ihm folgen und die letzten großen Schlachten im Osten erfolgreich schlagen. Der Feind im Osten wird fallen. Wir selbst werden alle bald gemeinsam in Moskau stehen. Die Leistungen des deutschen Volks in diesem Krieg sind außergewöhnlich. Liebe Nationalsozialisten, ich weiß, wir können uns nur für einen kurz Aufenthalt hier wieder in Breslau zusammenfinden, bevor wir wieder unseren Pflichten für unser Volk nachgehen müssen. Ich selbst werde morgen an die Ostfront reisen, um meinem Volk in den kommenden Schlachten zu dienen. Ich bin zuversichtlich, dass wir schon alle bald wieder hierher zurückkommen werden, um zu feiern, Um eine neue Weltordnung zu feiern. In der wir Deutsche wieder aufsteigen, zu Herrschenden. Last uns anstoßen, liebe Patrioten, auf eine letzte erfolgreiche Schlacht!" Der ganze Saal war begeistert von seinen Worten und klatschte Beifall. Diese Männer sahen alle zu ihm auf. Ich fragte mich wieso. Anscheinend verstand ich es nicht. Vater würde morgen schon wieder weggehen und er würde es mir nicht einmal persönlich sagen. Ich erfuhr es in diesem Moment zum ersten Mal. Dieser Abend würde der letzte sein, den ich mit meinem Vater "verbringen" würde. Es hatte den Anschein, als wären ihn diese Menschen wichtiger als seine eigenen Kinder. Ich schloss die Augen, verdrückte mir eine einzige Träne, wusch sie mir ab und kroch zurück zur Tür des Zimmers meiner Eltern. Ganz leise öffnete ich sie wieder, stahl mich hinein, setzte mich aufs Bett und schlug wieder mein Buch auf ...


Kurz vor Breslau, Niederschlesien bei Heidersdorf, 7. Mai 1945. Die letzten Wochen waren die Hölle auf Erden. Wir saßen mit hunderten von Kindern und Müttern in offenen Güterzügen, die normalerweise für den Transport von Vieh vorgesehen waren. Ich stand auf der kleinen Plattform zwischen den Wagons und blicke, in der Hoffnung meine Heimatstadt bald wieder zu sehen, auf die weiten Felder Niederschlesiens. Ein kurzer Moment des Schreckens überkam mich als ich sah, wie schwarze Rauchschwaden über dem Horizont ihren Weg gen Himmel suchten. Ich schloss vor Verzweiflung die Augen und dachte kurz darüber nach zu meinen Geschwistern in den Wagon zurückzukehren. Aber dieser Gedanke schmerzte noch viel mehr. Das Leid in den Augen der vielen Kinder und Mütter zu sehen, konnte ich schlicht nicht ertragen. Ihre Heimat stand in Flammen. Das ganze Land tat es. Es war nicht auszumalen wie der Ring, geschweige denn unser Haus, nun auszusehen hatte. Man hatte uns vor vier Monaten aus der Stadt evakuiert. Eine Schlacht hätte es geben sollen, die Festung Breslau hätte mit jedem noch tüchtigen Mann verteidigt werden sollen. Nun war es vorbei. Später wird der Tag nach dem damaligen als Tag der Befreiung Europas in die Geschichte eingehen. Man hatte uns im Januar nach Österreich in die sicheren Alpen evakuieren wollen. Dort, wohin der Feind noch nicht vorgedrungen war. Für all die vielen Menschen, die Breslau verlassen sollten, gab es jedoch bei weitem nicht genügend Wagons. Wir mussten also zu Fuß gehen. Ein Drittel der Kinder starb bereits als wir bei den eisigen Wintertemperaturen die Grenze zur Tschechei überquerten. Es war schwierig genug selbst bei Kräften zu bleiben. Der Müdigkeit in der Nacht nachzugeben bedeutete den sicheren Tod. Neben meinem eigenen Überleben musste ich mich zusätzlich um das meiner zwei jüngeren Schwestern sorgen. Auf dem Weg waren wir alle maßlos dehydriert und ausgehungert. Dreihundert Kilometer bedeuteten achtzig Stunden durchgängiger Fußmarsch. Das Gelände war rau und die Nächte vor Kälte kaum zu ertragen. Viele Mütter beteten jede Nacht mit ihren Kindern. Wir beteten nicht. Wir glaubten nicht. Erst im Angesicht des Todes zum Glauben zu finden erschien mir damals ohnehin schon falsch. Mir wurde es auch nie beigebracht. Das einzige an was ich geglaubt hatte war die Sicherheit vor dem Feind, die man uns in Österreich versprochen hatte. Wir hätten lediglich ein paar Wochen dortbleiben müssen, bevor uns ein Zug wieder nach Breslau zurückgeschickt hätte. Tatsächlich fuhren wir deutlich früher wieder zurück nach Hause. Aber ganz und gar nicht, weil der Krieg gewonnen war oder die Festung Breslau standgehalten hatte, wie man es uns versprach. Unser Flüchtlingszug nach Österreich maß mehrere hunderte von Metern. Sofern sie noch gehen konnten, liefen die Kinder bei ihren Müttern mit. Viele starben noch am letzten Tag vor der Ankunft an Hunger und Erschöpfung. Ich konnte mich nicht um andere kümmern. Als Ältester musste ich mich um meine Familie kümmern, so hatte es mir meine Mutter von Geburt an verinnerlicht. Mein drei Jahre jüngerer Bruder hatte gelernt mir dabei keine Probleme zu machen und gab so keinen Mucks von sich. Meine beiden Schwestern jedoch schrien. Ihre Gesichter waren ununterbrochen tränenüberströmt. Kein trotziges Schreien, wie es Kinder ja oft genug taten, sondern ein vor Schmerzen verkrampfendes Heulen. Solange sie die Schmerzen noch irgendwie äußerten, war ich doch ein bisschen erleichtert. Die Kinder die einfach vor Erschöpfung tot umfielen gaben in der Regel keinen Laut mehr von sich in den Stunden zuvor. Wir trugen zwar alle relativ dicke Kleidung, nur schützte uns diese nur begrenzt vor den eisigen Winden, die durch die Täler des Riesengebirges fegten. Jedes Mal wenn uns ein solch tödlicher Wind überraschte starben Duzende. Der letzte Januar in Zeiten des Krieges war der kältester, den ich je erlebt hatte. Ausgehungert und durchfroren kam nur ein Fünftel der anfangs Mitgelaufenen an der Grenze Österreichs an. Aus der Ferne sahen wir bereits die Flaggen, die hoch über den Grenzposten im Wind wehten. Ich kannte mich mit Flaggen nicht besonders gut aus. Auf jeden Fall wusste ich, dass es nicht die deutsche Flagge sein konnte...


Während ich auf der Plattform des Güterzuges das Vergangene nun Revue passieren ließ und die weiten Felder langsam übergingen in die ersten Kleinstädte vor Breslau, zuckte ich zusammen als mir mein Bruder hastig von hinten an meiner Jacke herumzupfte. "Hey, du musst mal kurz kommen, da ist ein Mann der unserer Papiere kontrollieren will" teilte er mir bewusst mit. Ich nahm sein dringliches Anliegen wahr, starte aber noch für einen kurzen Augenblick weiter in die Ferne ohne mich von meinem Bruder aus der Ruhe bringen zu lassen. Nach dem Todesmarsch durch die Tschechei, gelang es mir mit weniger todbringenden Problemen viel gelassener umzugehen. Als ich in den Wagon zurückkehrte, sah ich einen Soldaten mit einem Maschinengewehr auf dem Rücken und Kriegshelm auf dem Kopf neben meinen kleinen Schwestern knien. Ich lief zu ihm und stellte mich schützend vor sie. Mir war sofort klar, dass der Soldat kein Deutscher war. Er sprach zu mir in einer Sprache die ich nicht verstand. Polnisch konnte es nicht sein, das kannte ich zuordnen. Auch war ich mir sicher, dass er kein Russisch sprach. Es musste ein Soldat aus dem Westen sein. Er fing an zu mir zu sprechen. Dass er laut und deutlich sprach änderte nichts daran, dass ich kein Wort von ihm verstand. Am Ende des Satzes meinte ich den Namen meiner Heimat gehört zu haben: "I just wanna' confirm that here is no passenger on board that is not from the Soviet sector and the city of Breslau." Als ich diese Worte hörte, machte ich sofort einen selbstbewussten Schritt nach vorne auf den Soldaten zu. "Ja! Wir sind aus Breslau, das ist unserer Heimat, Schneider, Schneider, Schneider" wiederholte ich unseren Nachnamen dreimal in der Hoffnung, der Soldat würde ihn schnell auf seinen vielen Listen finden können. Ohne zu wissen ob der amerikanische Soldat mich verstand oder nicht, nahm ich meine Schwestern an der Hand, warf meinem Bruder einen kurzen unmissverständlichen Blick zu und zerrte sie alle zusammen zurück zu der kleinen Plattform am Ende des Wagons. Dort angekommen, verschloss ich die Tür zum Zug und seufzte erschöpft. "Hier haben wir erstmal unserer Ruhe" sagte ich zu meinen kleinen Geschwistern und schaute in ihre verängstigten Gesichter. Ruhig war es dort aber ganz und gar nicht. Die rostigen Räder des Zuges mussten sich den provisorisch verlegten Schienen fügen und erzeugten ein durchgehendes unangenehm lautes Schleifen. Der Fahrtwind blies zusätzlich durch die vielen offenen Stellen zwischen dem Stahlgerüst der Wagons und ließ uns zittrig zwischen den Gittern kauern. Ich hatte doch meine Ruhe. Der Anblick des Inneren des Wagons konnte ich nur schwer ertragen. Hatten wir nicht, bevor die Rote Armee nach Schlesien vorrückte, ein gutes Leben gehabt. Von heute auf morgen kam der Krieg, der jahrelang so weit weg gewesen war, zu uns. Wer hätte sich darauf vorbereiten können? Wessen Entscheidungen musste man sich fügen? Abstrus sich vorzustellen hinter allen Geschehnissen würde ein Kern von schicksalhafter Fügung verharren.


Man würde uns nicht lange in Österreich behalten wollen. Es war abzusehen, dass Österreich im weiteren Kriegsverlauf keine sichere Evakuierungsoption mehr war. Briten, Franzosen und Amerikaner landeten auf der Insel Sizilien und drangen langsam über Italien nach Österreich ein. In wenigen Wochen wurde das Land vollständig besetzt. Als wir dort ankamen wimmelte es bereits von amerikanischen Soldaten. Sie sahen wie abgemagert und erschöpft wir waren und gaben uns zu essen und zu trinken. Unter uns war kein Soldat, wir waren nur Kinder und ein paar Mütter, die nicht das Los des Teufels zogen und nicht in den "Volkssturm" einberufen wurden. Mutter durfte nicht mit uns mit. Sie musste daheimbleiben, um die sogenannte „Festung Breslau“ zu verteidigen.


Die Ausrufung des "Volkssturms" war eines der dunkelsten Kapitel der deutschen Geschichte. Ganz getreu der Ideologie Adolf Hitlers sollte sich die übergeordnete Rasse gegenüber den anderen durchsetzen, sie zur Kapitulation zwingen, sie vernichten. Die stärkste Rasse herrschte über die übrigen. Charles Darwin wendete dieses Prinzip bereits auf die Natur an. Nun missbrauchte das nationalsozialistische Terrorregime genau dieses Gedankengut und schuf eine noch extremistischere Auslegung des bereits sehr kritischen beäugten Sozialdarwinismus. Den Krieg zu führen war aus der Sicht Hitlers nur die Entfesselung natürlicher Prinzipien, die die Ordnung dieser Welt ursprünglich regulieren sollte. Diese natürliche Selektion sollte laut der nationalsozialistischen Ideologie nicht nur gegenüber anderen Völkern angewandt werden, sondern auch innerhalb ihres eigenen.

„Es geht ja nicht nur um die Insassen, der von ihnen geführten Nervenheilanstalten, das ist erst der Anfang, es geht in Zukunft um das gesamte untere Drittel unseres Volkskörpers. Minderwertige, Krüppel, Schwachsinnige, Alkoholkranke, Triebtäter, Arbeitsscheue, kurz: all jene kranke Elemente, die den gesunden Volkskörper mehr Kosten verursachen als sie ihm einbringen. Dieses untere Drittel muss ausgemerzt werden, um unser Volk wieder auf ein gesundes Fundament zu stellen. Obendrein haben die Errungenschaften unserer modernen Zivilisation den natürlichen Ausleseprozess nicht lebensfähiger Existenzen jahrelang verhindert. […] Wir alle haben der Natur bei ihrer Auslese jahrzehntelang ins Handwerk gefuscht. Es ist daher unsere Pflicht den Patientenstand durch sinnvolles Selektieren nachhaltig auf ein verträgliches Maß herunter zu regulieren. Es muss wieder mehr gestorben werden.“

Hieß es auf einer Konferenz der bayrischen Anstaltsdirektoren am 17. November 1942 im Rahmen des Vernichtungsprogramms von Kranken in der Zeit des Nationalsozialismus. Das Regime war sich sicher, dass ihr Volk, aufgrund seiner natürlichen Überlegenheit, die natürliche Auslese überstehen wird. Dies änderte sich jedoch im Jahr 1942. Nach dem D-Day, der Schlacht bei Stalingrad und der sich immer weiter zu Ungunsten der Wehrmacht entwickelnden Truppenstärke an der Ostfront, war bei objektiver Betrachtung realitätsfern anzunehmen, der Krieg sei aus nationalsozialistischer Sicht noch zu gewinnen. Die Ideologie lies nur einen Ausweg zu. Einen einzigen Grund den „natürlichen“ Krieg, bzw. den Ausleseprozess weiterzuführen. Die Vernichtung des deutschen Volkes.


Es war naiv zu glauben, man schicke uns zur Evakuierung nach Österreich. Man entsorgte uns. Wenn uns der beschwerliche Weg durch das Riesengebirge nicht schon das Leben kosten würde, würde es mit Sicherheit durch den Feind beendet werden, der bereits tief nach Österreich vorgerückt war. Der Feind in Form der Amerikaner war jedoch äußerst freundlich uns gegenüber. Es wurden Züge für uns organisiert, die uns zurück nach Breslau bringen sollten. Die Festung Breslau fiel letztendlich deutlich schneller als propagiert, der Krieg in Schlesien war vorüber.


Während wir uns langsam der Stadt näherten, begann ich bereits aus der Ferne das Ausmaß der Verwüstung zu erkennen. Nichts war mehr wiederzuerkennen. Kein Haus, keine Kirche, kein Geschäft, ja noch nicht einmal Straßen glichen dem vertrauten Bild meiner Stadt. Durch den ganzen Schutt und die Trümmer, musste der Viehtransporter weit vor den in Schutt und Asche gelegten Mauern der Stadt halten. Bevor wir in die Stadt liefen und unserer Mutter suchen konnten, mussten wir uns zuvor in eine lange Schlange vor zwei kleinen Tischen sowjetischer Beamter einreihen. Sie trugen Uniform, eine Maschinenpistole bei sich und gingen alles in allem sehr ruppig mit den nun heimatlosen Menschen um. Man musste uns registrieren, hieß es nur. Alle bekamen wir Armbinden mit dem Buchstaben "N" dick und fett darauf. "Niemczech" polnisch für „Deutscher“. Menschenmassen tummelten sich ungeordnet davor, um die unbeliebte und unnötig bürokratische Prozedur über sich ergehen zu lassen. Erst anschließend durften wir uns endlich auf den Weg in das Stadtzentrum machen. Denn ohne die Armbinden ließ man uns nicht in die inneren Bezirke. Ich nahm meine Geschwister bei der Hand und gemeinsam versuchten wir einen Weg durch den Schutt zu finden. Die Straßen waren nicht mehr als solche zu erkennen. Links und rechts spähte ich nach irgendetwas mir Vertrautem, nach etwas, das ich kannte. In diesen Gassen hatte ich meine bisherige Kindheit verbracht. Jeder Winkel, jedes Haus um den Ring herum, überall kannte ich mich aus. Aber ausgerechnet an diesem Tage erschien mir alles fremd. Während Frauen und alte Männer in den Trümmern nach ihren Habseligkeiten suchten, spielten ihre Kinder auf den Berge von Schutt, die sich überall auf dem Ring türmten. Ein für mich surrealer Anblick. Das letzte Mal als ich diesen Ort zu Gesicht bekam, war alles noch so wie immer. Ich musste träumen. Ein Alptraum. Man hatte uns getäuscht. Ich verstand die Welt nicht mehr. Mein Vater, den ich seit fast drei Jahren nun nicht mehr gesehen hatte, erzählte mir stets vom Glück des Krieges, vom Sieg. In den vielen Jahren ging es uns sehr gut. Welch tiefe Enttäuschung. Vater war nicht zurückgekommen. Er würde nie zurückkommen. Ich verschwendete in der ganzen Zeit ohnehin keinen Gedanken an ihn. Seiner Vaterrolle konnte er nie gerecht werden. Die allumfassende Vergebung am Sterbebett war ein obligatorischer Brauch unserer Kultur. Auch wenn mir der Krieg diese Möglichkeit nahm, hätte ich es nachholen können. Ganz in der Stille meines Geistes viele Jahre später. Ich versäumte es. Frieden zu schließen mit der Schuld anderer, hieße auch Ruhe zu finden in sich selbst. Es fiel mir schwer diesen Frieden einzugehen. Ich will ihm vergeben. Ich will es unbedingt. Später dann, fünf Jahre nach unserer Flucht nach Niedersachsen, gedachte man den im Krieg verstorbenen Vätern. In der Mitte des Dorfes, in dem wir Zuflucht fanden hatte man Gedenktafeln angebracht und Blumen niedergelegt. Ich erfuhr durch Zufall von dieser Aktion. Meine kleinste Schwester ging und legte einen Blumenstrauß an die Stelle nieder, an der sein Name stand. Mutter lebte noch. Auf einen der Schuttberge vor unserem ehemaligen Haus fielen wir ihr allesamt unter Tränen in die Arme. Sie hatte überlebt, weil sie Hoffnung hatte. Hoffnung, dass sie ihre Kinder nach dem Höllenfeuer wieder in die Arme schließen könne.


In den kommenden Tagen besaßen wir lediglich ein paar lumpige Wolldecken und einen einzigen Satz Kleidung, den wir noch seit der Evakuierung aus Breslau bei uns trugen. Nur die Grundfeste unseres Hauses hatten die Schlacht überstanden. Eine Tür gab es nicht mehr. Alle Decken waren ausnahmslos eingestürzt. Einzelne Wände versuchten noch tapfer ihr unausweichliches Schicksal hinauszuzögern. Haufen vom grauen, kalten Schutt und lose Trümmer verstreuten sich über den ehemaligen Eingangsbereich. Wir suchten in diesen Tagen viel nach unseren Habseligkeiten oder irgendwas Brauch- und Essbaren was wir noch in der Ruine finden konnten. Mutter war tagsüber immer unterwegs. Sie war bemüht ehemalige Freunde und Bekannte aufzusuchen, in der Hoffnung einige seien unter den verbliebenden Familien, deren Grundstücke unbeschadeter davongekommen waren als unseres. Diese Tage nach der Ankunft waren jedoch nichts im Vergleich zu dem was uns noch blühte. Viele waren nicht mehr in der Stadt, nur die wenigsten zurückgekehrt. Aber auch wir, die wir uns doch den Umständen entsprechend mit der Realität abgefunden hatten und uns einen Neuanfang sehr gut vorstellen konnten, wurden schlussendlich mit der bitteren Wahrheit konfrontiert. Was wir damals noch nicht wussten: Churchill und Stalin planten die Westverschiebung Polens. Millionen von Polen wurden gewaltsam aus ihrer Heimat in den Ostgebieten vertrieben und flüchteten nun in die ihnen versprochenen Westgebiete. Abermillionen vom jahrelangen Krieg, Flucht und Völkermord gezeichnete Menschen machten sich nun auf den Weg, um in Schlesien, Ostpreußen und Pommern endlich der blutgetränkten Erde zu entkommen. Als sie dort ankamen zogen sie in die von uns vollständig geräumten Lande im neuen Polen. Durch die Armbinden erkannte jeder wer Deutscher war. Alles durften sie uns abnehmen. Auf dem Land wurde befohlen Grundstücke, Höfe, Häuser offen und Schlüssel von außen stecken zu lassen. Familie für Familie wurden sie in dieselben Viehtransporter gestopft, mit denen wir noch vor einigen Woche wieder zurück nach Breslau fuhren. Die Städte versunken währenddessen im Chaos. Während auf dem Land klare Regularien herrschten, gewann in den Großstädten das Chaos die Überhand. Es kamen zwar Unmengen an Flüchtlingen nach Breslau, jedoch ging es ihnen ähnlich wie uns. Es gab keine Grundstücke die sie übernehmen hätten können, keine Häuser mehr in die sie hätten einziehen können. Wir lebten alle in den Ruinen, alle unter dem Schutt und der Zerstörung. Die Solidarität der Städter schaffte anfänglich auszuhaltende Zustände in einer Ära geprägt von Heimatlosigkeit. Woraus und aus welchem Zweck hätte man uns denn vertreiben sollen? Die Stadt brauchte nun jede einzelne Hand mehr denn je. So lebten mein Bruder, meine Schwestern, meine Mutter und ich nur zwei Straßen in einer sich tapfer dem Verfall wehrenden Ruine. Lediglich zwei Wochen verbrachten wir dort. Bis heute erinnere ich mich sehr deutlich an diese Zeit. Jeder Augenblick deutlich wie Bilder eingebrannt in meinen Erinnerungen...


Wrocław, Dolny Śląsk, 15. Mai 1945. Die Sonne streichelte über die zerbombten Ruinen der Innenstadt Breslaus und trieb ihre sanften Strahlen direkt durch das in der Wand klaffende Loch in meine Äuglein. Ich lag neben meinen Geschwistern in einem improvisierten Schlafsack aus Wolldecken im zweiten Obergeschoss unserer Ruine. Es war noch sehr früh am Morgen. Die Tage wurden länger von Mal zu Mal, sodass ich nicht genau einschätzen konnte wie lange die Sonne bereits über dem Horizont verweilte. Glück hatten wir, dass der Frühling sich früher denn je blicken ließ. Im obersten Geschoss de Ruine fehlte die Decke teilweise. Meine Mutter und ich schliefen genau unter dem Loch im Dach. Ich wollte meinen Geschwistern nicht zumuten nachts von einer kalten Dusche überrascht zu werden. Hier wohnten neben uns noch andere Familien, von denen die meisten ebenfalls Flüchtlinge aus dem Osten waren. Viele von ihnen hatten Kinder in meinem Alter. Meine Geschwister trauten sich noch nicht mit ihnen zu sprechen oder gar mit ihnen zusammen zu spielen. Aus irgendeinem Grund ließ es mir jedoch innerlich keine Ruhe sie nicht doch einmal zumindest anzusprechen. Ich nahm ein Stück Brot, welches Mutter uns zum Frühstück neben den Schlafplatz gelegt hatte, teilte es und lief hinaus auf die Schuttlandschaft, die dieser Stadt immer noch war. Es würde wohl noch Wochen dauern bis hier endlich mal wieder ein Auto oder gar eine Straßenbahn fahren konnte. Kinder jedoch hatten ihren Spaß in dem ganzen Schutt. Viele von ihnen spielten in den Trümmern ohne, dass sie jemand zurechtwies. Die Zurechtweisenden waren mit weitaus anderen Dingen beschäftigt als zurechtzuweisen. Ich beobachtete einen Jungen, der auf der anderen Straßenseite mit einer Schippe Schutt beiseite schaufelte. Ich lief zu ihm "Hey, mach doch mal eine Pause!" rief ich dem Knaben noch im Laufen zu und streckte ihm dabei die andere Hälfte des Brotes entgegen. Als er mich rennen sah, reagierte er mit etwas unsicheren Blicken. Dennoch stach er seinen Spaten in den Schutt, wartete brav bis ich vor Ort war, griff die eine Hälfte meines Brots und nahm hastig einen Bissen. Ich sah ihm dabei zu. Der Junge kaute ein bisschen auf dem Brot rum, bevor sein Blick auf meine Armbinde und dann wieder in meine Augen schwenkte. "Dziękuję" - Danke, der Junge war Pole. Ich wich einen Schritt zurück, musterte in kurz und überlegte. "Maciej" sprach der Junge und zeigte dabei auf sich. Ich erwiderte in dem ich ebenfalls meinen Zeigefinger auf mich richtete und ihm meinen Namen nannte. Er lachte. "Hast du Lust hoch in dieses Haus und zu gucken ob es da etwas zu essen gibt?" schoss es aus mir heraus, ohne mich dabei an die Unkenntnis seinerseits gegenüber meiner Sprache zu erinnern. Für mich war das meine Heimat, mein gewohntes Umfeld, meine Sprache die hier gesprochen wurde. Sie waren Gäste, willkommene Gäste. Meine Frage untermauerte ich mit umfangreichen Armbewegungen. Augenscheinlich hatte ich Erfolg, denn Maciej zeigte mit seiner Schaufel auf den Eingang einer alten Stadtvilla und warf mir darauf einen fragenden Blick zu. Fast schon selbstverständlich nickte ich ihm zu. Spielerisch rannte er los durch die eingebrochene Tür des der alten Stadtvilla. Ich tat es ihm gleich und versuchte Schritt mit ihm zu halten. Die verzierte Steintreppe an der Seite ist bis auf einige herausgebrochene Stufen noch einigermaßen intakt und so waren wir dazu in der Lage in jedem Stock nach irgendetwas Zurückgelassenem zu suchen. Uns war wahrscheinlich beiden bewusst, dass hier nichts mehr zu holen war, dieser Ort war mit ziemlicher Sicherheit schon geplündert worden. Die Ruine war aber nichtsdestotrotz ein idealer Ort zum Erkunden. Unsere Mütter hätten uns gewiss davon abgehalten, in den vom Einsturz gefährdeten Gebäuden rumzustreunen. Maciej rief mich herbei, überstürzt wie er zu sein schien, lief er voraus über die Treppen und durch die Flure. Im ersten Obergeschoss des Hauses war der Boden bereits weggebrochen. Maciej stand am Abgrund des im Boden klaffenden Lochs und winkte mich hinüber. Auf der anderen Seite des Abgrunds sah man einen Vorsprung auf dem ein augenscheinlich unbeschädigter Wohnzimmersekretär Platz hatte. Für gewöhnlich waren solche Stadtvillen, die selbst für Notunterkünftige zu zerstört waren, bereits geplündert worden. Möbelstücke lagen in ihren Einzelteilen auf dem Boden, Schubladen rausgerissen. Nur das Loch im Boden erklärte weshalb es bis jetzt noch niemand geschafft hatte, speziell diesen Schrank auszuräumen. Ich blickte Maciej verdutzt an. Wir hatten anscheinend beide die gleiche Idee. Sofort lief ich runter in das Erdgeschoss und suchte nach irgendetwas wie eine große Platte, einer alten Tür oder ähnliches, womit wir das Loch überqueren konnten. In den Trümmern fand ich tatsächlich die Überreste der ehemaligen Haustür. Sie war zwar in der Mitte gebrochen und an den Rändern total zersplittert, jedoch bot sie uns von all den in Frage kommenden Trümmern in der Villa die beste Chance das im Boden klaffende Loch oben zu überqueren. Hastig lief ich die Stufen der steinernen Treppe wieder hinauf in das erste Obergeschoss, um Maciej meinen Fund vorzustellen. Er hatte ebenso irgendwo links und rechts im Schutt gekramt und hielt zwei hüfthohe Holzbalken in den Händen. Als er mich sah ließ er diese jedoch sofort fallen und rannte voller Begeisterung auf mich zu. Er schien wie erstarrt von dem wundervollen Fund. Ich übergab ihn die Tür und ließ in für ein paar Augenblicke in seiner Vernarrtheit alleine. Seine Augen waren überhaupt nicht mehr von dem bezaubernden Objekt abzuwenden. Ich ging währenddessen entgeistert zur Kante. "perfekcyjny" hörte ich ihm hinter mir staunen ohne mir auch nur einen Funken Aufmerksamkeit zu schenken. Nach einer Weile kam er zu mir herüber und platzierte die halbe Tür so, dass sie uns einen bestmöglichen Absprung bot. Eine nicht zu vernachlässigende Distanz musste man weiterhin noch springend überqueren. Ein bisschen stutzig schaute ich ihm nach, wie er versuchte, die Tür an den Rand der Kante zu legen. Ich erkannte das Problem sofort. Wenn wir die Tür nicht beschwerten, bräche sie bei einem Sprung einfach unter uns weg und beförderte uns direkt auf den kalten, mit Trümmern übersäten Steinboden des Erdgeschosses. Ich griff zu meiner linken nach einem massigen Trümmerbrocken, hob ihn mit beiden Händen vom Boden auf und trug ihn mit beiden Armen umfassend hinüber zu Maciej. Dort hievte ich ihn behutsam auf das an der Kante des Abgrunds liegende Ende der Tür. Meine Arme brannten vor Überanstrengung. Die Tür ragte nun halb über dem Abgrund und bot uns so eine verlängerte Absprungplattform. "Dobra" kam es aus ihm zufrieden heraus, bevor er zurück in Richtung zur Treppe ging um von da aus Anlauf zu nehmen. "Musisz postawić nogę na drzwiach, bo inaczej spadnę." Ich erwiderte nichts, da ich nicht mal seine wild durch die Luft geworfenen Handzeichen interpretieren konnte. Dann zeigte er auf seinen Fuß, dann auf meinen und dann auf die Tür. Ich verstand, streckte ein Bein von mir und stellte es auf den Rand der durch die auf dem Boden liegende Tür geschaffene Plattform. Nun war es Zeit. Maciej nahm Anlauf und sprintete los. Er versuchte seine Schritte so zu sortieren, dass gerade der Letzte auf dem hinteren, über dem Abgrund hängenden Teil der Tür aufkam. Ich hielt meinen Fuß mit aller Kraft auf der Tür um sie so bestmöglich in ihrer Position zu fixieren. In dem Augenblick, indem Maciej sein gesamtes Gewicht auf seinen linken Fuß verlagerte und zum Sprung ansetzte, krachte es hölzern. Die ohnehin schon zersplitterten Bruchstücke der Tür hielten der Kraft nicht stand und brachen in der Mitte in zwei. In Sekundenbruchteilen wurde sich Maciej seiner misslichen Lage bewusst und fing an zu schreien. Er fiel durch das Loch im Boden des ersten Obergeschosses direkt auf den kalten, mit Schutt und Trümmern übersäten Boden des Erdgeschosses. Ich drückte wie verkrampft das letzte Viertel der schweren Holztür am Boden fest während ich seinen durchaus schweren Sturz von der Kante aus miterlebte. Sofort rannte ich aufgebracht über die Treppe zu ihm runter. Am Boden zwischen den Steinen liegend hielt er sich das rechte Bein mit beiden Händen und wimmerte schmerzverzerrt vor sich hin. Schnell schlug sein augenscheinlich schmerzbestimmter Zustand in Wut um. Auch wenn ich ihn nicht verstand, war ich mir ziemlich sicher, dass er nun eine Vielzahl von polnischen Flüchen auf seine Umgebung losließ. Als er mich die Treppe runterkommen sah, hatte ich durchaus ich das augenscheinlich auch berechtigte Gefühl, dass seine Flüche auch mich treffen sollten. Von Staub überzogen hievte er sich wutentbrannt auf, humpelte auf mich zu, hob den Zeigefinger und beschimpfte mich unaufhörlich in seiner Sprache. Ich hatte doch nichts Böses gemacht. Es war das Material, das seinem Gewicht nicht standhielt. Ich wusste aber auch, dass es vergeblich war mich dafür auf Deutsch zu rechtfertigen. Rückblickend bin ich selbst erstaunt, einen welch kühlen Kopf ich in Anbetracht des vor Wut brennenden, mich beschimpfenden Maciej bewahren konnte. Meine innere Ruhe provozierte ihn anscheinend nur noch weiter. Bemerkend, dass seine Flüche und Beleidigungen nicht die von ihm erhoffte Wirkung erzielten, hielt er kurz inne. Wieder blickte er abfällig auf meine weiße Armbinde. "Deutsches Schwein" beleidigte er mich, und spuckte mir danach ins Gesicht. Mehr noch durch seine Tat spürte ich die Wut in mir hochkochen. Meinen Fuß hatte ich nicht weggezogen, wie er vielleicht annahm. Allein durch den körperlichen Vorteil den ich hatte, war es mir theoretisch ohne Probleme möglich Maciej etwas anzutun. Der Krieg hatte ihn gelehrt nach oben zu treten, selbstbewusst, draufgängerisch. Mutig nahm er sich was er wollte, legte sich, wenn es sein musste, auch mit Stärkeren an. Im Nachhinein muss ich diesem kleinen Persönchen durchaus meinen Respekt zollen. Mir hatte der Krieg anderes gelehrt. Wir wären aufgrund unserer Persönlichkeiten wahrscheinlich eh nie Freunde geworden. Provoziert von seiner Tat schubste ich Maciej, sodass er hinterrücks auf den steinernen Boden fiel. Im Fall schaffte er es noch sich mit beiden Armen abzustützen. Trotzdem fiel er wieder hart. Ein weiterer Fall würde sein Gemüt nur noch weiter erhitzen. Ein weiteres Mal schien ihm seine körperliche Unterlegenheit egal zu sein. Keine Anstalten machte er mit dem fluchen aufzuhören oder vor mir zurückzuweichen. Wiederum versuchte er sich aufzuraffen um auf mich zuzukommen, was ihm dieses Mal aber misslang. Als ich ihn dann dort so liegen sah, sein Gesicht vor Wut verzehrt, erhole ich mich emotional von diesem plötzlichen inneren Ausbruch. Ich besaß üblicherweise ein ruhiges Gemüt, ich ließ mich nicht so schnell provozieren. Es gab im Krieg Wichtigeres als sich um diese kleinen Scharmützel zu kümmern, es ging ums Überleben. Dennoch zeigte mir die Situation mit Maciej wie sehr seine Worte mir schmerzten. Beim Fassen dieses Gedankens spürte ich die Anwesenheit einer Person hinter uns. Ohne hinzusehen erkannte ich die Silhouette meiner Mutter, die einen langen Schatten durch das gesamte Gebäude warf. Selbstverständlich kannte sie Maciej nicht. Für sie sah es wahrscheinlich so aus, als würde ich fremde und schwächere polnische Jungen etwas antun. Später erfuhr ich von meiner Mutter, dass sie das gesamte Schauspiel vom Fenster unseres Hauses verfolgt hatte und erst zum Schluss gekommen war als Maciej die Kante hinunterstürzte. Ihre mütterlichen Blicke voller Strenge in meinem Nacken spürend, wusste ich sofort was zu tun war. Voller Demut machte ich die paar Schritte auf Maciej zu, beugte mich zu ihm runter und gab ihm die Hand. Offensichtlich schüchterte die Anwesenheit meiner Mutter den Jungen ebenso ein wie mich. Im Gegensatz zu mir hielt er für einen nicht unerheblichen Zeitraum direkten Augenkontakt mit ihr und war so unmittelbar der Mystik ihrer Blicke ausgeliefert. Was auch immer sie tat es beruhigte seine Wut. Er schien gelassen, beinah verzaubert. Fast schon selbstverständlich griff er dankbar nach meiner Hand, die ihn mit aller Kraft versuchte hochzuziehen. Ich drehte mich um und richtete meinen Blick auf die Türschwelle des Hauses, wo ich noch eben den langen Schatten meiner Mutter entspringen vermutet hatte. Niemand war dort mehr gewesen. Verwundert schaute ich den verletzten und komplett von Staub eingehüllten Maciej in die Augen. Wir blickten uns für einen Moment lang einfach nur still an. Vielleicht wartete ich darauf, dass sich in diesem Augenblick meines Lebens der Beweis für die Existenz von Telepathie mir offenbaren würde. Es passierte jedoch nichts. Die Abendsonne schien schon mittlerweile sehr tief durch die zahlreichen Löcher in der Häuserwand und warf eindrucksvolle Schatten zwischen den Trümmern. Ich nahm Maciej bei der Hand. Langsam gingen wir hinaus entgegen des warmen Sonnenlichts, dass den Staub auf unserer Haut zu einer feinen aber brüchigen Kruste festigte…


[…]


Ich würde Maciej nie wieder sehen. Von diesem Tag an begann in mir die Wahrnehmung heranzureifen, die Menschen wären rücksichtsloser. Der Schmerz saß tief. Mein Wunsch, hier in dieser neuen Welt Freunde zu finden, hatte sich rasant erübrigt. Wir würden es in den nächsten Tagen äußerst schwer haben. Ein weiteres Mal würden uns alles genommen werden. Unsere Heimat war nicht mehr dieselbe und würde nie wieder dieselbe werden. Dies mussten wir uns letztendlich eingestehen…


Kapitel 3

Magdeburg, Sachsen-Anhalt, 24. Mai 1945. Wir fuhren mittlerweile schon seit fast zehn Stunden über die weiten Felder. Fast drei Wochen nach Kriegsende waren die Lichter Deutschlands weiterhin dunkel. Ich war vorher noch nie in diesem Teil des Landes. Noch nie westlich der Oder. Vor circa fünf Stunden hatten wir jenen Fluss überquert, an dessen Ufern ich meine Kindheit verbringen durfte. Lange hat uns der Fluss auf unserer Reise begleitet, bis er letztendlich gen Norden abbog. Das letzte Stückchen Heimat, welches ich für fast ein halbes Jahrhundert nicht mehr wieder sehen würde. Dinge würden passieren. Dinge die wir, einfache Leute, nicht beeinflussen oder gar entscheiden konnten. Nun war es doch unserer Heimat, unsere Kindheit, unser Leben. Im Nachhinein war es vielleicht Schicksal oder Glück, dass man gerade uns nur einige hundert Meter hinter der baldigen deutsch-deutschen Grenze herauslassen würde. Gestern noch hatten wir Antrag auf Ausreise aus Breslau gestellt. Zusammen mit Onkeln und Tanten, die ich zuvor noch nie gesehen hatte, standen wir mit unserem letzten Hab und Gut bepackt morgens um fünf vor dem Behilfsbahnhof im Osten der Stadt. Viehtransporter derselben Art, wie solche, die uns damals aus dem Exil wieder zurückgebracht hatten, parkten dort kilometerlang aneinandergereiht. Dampfloks gab es nur wenige. Eine Lock musste einen Zug von hunderten Wagons ziehen. Der Beschleunigungsvorgang dauerte entsprechend. Ich dachte nur, wenn irgendein Gleis nicht in Ordnung wäre, dann würde das den ganzen Zug zerlegen und wahrscheinlich einem Großteil der Insassen das Leben kosten. Eine nicht ganz unrealistische Vorstellung, in Anbetracht des in Ruinen liegenden Deutschlands. So war jedoch genug Platz in den Wagons. Wir mussten uns den sowie schon nach Vieh stinkenden Wagon nicht noch mit anderen Menschen teilen. Man hätte nur einige hundert Meter den Zug hinunterlaufen müssen und fand eine reichliche Auswahl an leeren Zugabteilen vor. Unsere ganze Familie, inklusiver der Onkel, Tanten, Cousinen und Cousins, von denen ich vorher einige noch nie gesehen hatte, fanden dort Platz. Dieses Mal waren wir nicht nur Kinder, sondern auch Erwachsene. Dies bedeutete, dass man mit uns gröber umgehen würde als noch bei der letzten Fahrt. Insgesamt verspürten wir ohnehin schon immer stärker werdenden Groll von den neuen Beamten, der neuen Bevölkerung. Man hörte Gerüchte von Menschen, die auf der Straße angegriffen und denen sehr übel zugesetzt wurde. Offizielle, die für die weitere Administration für Breslau von nun an verantwortlich waren, duldeten die Gewalt gegen uns und ergriffen keine weiteren Maßnahmen. Glücklicherweise war unsere Familie, Mutter und meine Geschwister von solchen Konflikten mit den neuen Menschen verschont geblieben. Man konnte uns als Deutsche immer noch klar erkennen, da wir stets die "N"-Armbinde tragen mussten. Im Zug, sagte man uns, durften wir sie endlich abnehmen. Es war ein äußerst heißer Sommerabend. Die Nächte waren kurz, die Sonne würde noch einige mehrere Stunden hoch über dem Horizont verweilen. An der stählernen Wand des Wagons neben meinen Geschwistern sitzend schaute ich währenddessen raus aus der offenen, großflächigen Schiebetür des Transporters auf die weiten Felder. Die Dörfer schienen immer größer zu werden, die Kirchtürmer immer höher. Es hatte wohl den Anschein als dass wir bald wohlmöglich auf die nächst größere Stadt stoßen würden. Dort würde uns die Realität wieder einholen. Die Dörfer hinter Potsdam, der letzten Stadt, die wir vor circa drei Stunden passiert hatten, gähnten nur so vor paradiesartiger Normalität. Der Krieg hatte sie vollständig verschont. Keine Bomben fielen hier. Keine Schlachten wurden hier geschlagen. Für die Bauern änderte sich das Leben im Krieg nur wenig. Die Dächer auf den Höfen blieben unbeschadet, das Vieh graste friedlich weiter draußen auf den Weiden, die Pflanzen ließen sich nicht von den fielen blutigen Nachrichten beim Wachsen stören. Für mich war es unbegreiflich wieso der Krieg nur uns Städter treffen musste. Frankfurt, Berlin und Potsdam waren völlig zerstört. Kein Gebäude wurde vor der Zerstörung verschont. Die Kirchen, die den Angreifern als Orientierungspunkte für die Bombenabwürfe dienten, thronten über der Asche des Kugelfeuers. Wie ein König, der über verbrannte Erde herrschte. Wie Napoleon in Moskau. Ich stand auf und ging ein paar Schritte in Richtung der hölzernen Gittertür. Der Zug fuhr nicht schnell. Vielleicht vierzig oder fünfzig Stundenkilometer. Während ich die metallische Strebe links neben der Tür zu greifen versuchte, ging ich ein kleines Stück weiter zu der nun offenstehenden Tür. Vorsichtig kniete ich mich hin, um aus dieser Position meine Beine über die Schienen baumeln zu lassen. Hinter mir hörte ich meine Mutter mir das obligatorische "Kind, sei vorsichtig!" zurufen. Ich hielt kurz inne und schaute über meine Schulter zu ihr rüber. Dann stützte ich meine rechte Hand am Boden ab, setzte mich auf den kalten Boden des Wagons und ließ die Füße frei über den Schienen baumeln. Beängstigend wenn man bedenkt, dass ein simples Ungleichgewicht zu einem nicht mehr abzufangen Vorwärtsfall führen konnten. Ein Trauma welches ich mir damals bei einem Jugendausflug auf Ameland in der unmittelbaren Nähre eines Supermarktes auf einem runden Fahrradanlehnbügel sitzend eingefangen hatte. Der Fahrtwind fuhr mir angenehm durch meine kurz geschnittenen dunkelblonden Haare. Von dieser Position aus konnte ich nun endlich beobachten wo der Zug eigentlich hinfuhr. Sonst musste ich mich immer nur mit der für einen Zugpassagier typischen Seitenaussicht abfinden. Meine Augen tränten während ich versuchte in Fahrtrichtung des Zuges die Ferne zu erspähen. Jedes Mal, wenn die hunderten aneinander gereihten Wagons eine Kurve fuhren und somit den erbarmungslosen Gesetzen der Physik ausgesetzt waren, knarrte und quietschte es unter einer beunruhigend ohrenbetäubenden Lautstärke. Hier draußen überspielten die Windgeräusche jegliches Wehklagen des Zuges. Fuhr der Zug bergab spürte man die dort wirkenden Kräfte an eigenem Leib. Ein leicht flaumiges Gefühl in der Magengegend, jedoch nichts was ich nicht abkonnte. Auf der langen Fahrt hatte ich genug Zeit mich mit den Wahrnehmungen meiner Sinne im Zusammenspiel mit der Fahrt des stählernen Kolosses zu beschäftigten. Nun aber auf der Kante sitzend, mit den Beinen nur circa einen Meter über dem Abriss schaukelnd, nahm ich keine von ihnen wahr. Hier draußen war alles anders, alles wirklich. Ich blickte mit voller Erwartung auf das was nun kommen möge gen Horizont. Die weiten Felder öffneten sich und enthüllten eine Stadt am Fluss. Schneisen zogen sich durch die heimische urbane Landschaft. Die größte Schneise füllte ein von dessen Ausmaß ich noch nie zu Gesicht bekommenden Fluss. Aus der Ferne enthüllte sich mir ein königlich unversehrt gebliebener Kirchturm. Die übrigen Einschläge in die Stadt waren belanglose, immer wiederkehrende Erinnerungen an die Zerstörung. Gigantische Brückenpfeiler thronten links und rechts entlang des Flusses über der Stadt. Sie waren ebenso überflüssig wie jeder Gedanke an Zuhause. Ihr tief im Boden versunkendes Stahlfundament machte sie selbst gegen das noch so heiß brennende Bombenfeuer unantastbar. Nichts trugen sie jedoch mehr. Eine in zwei geteilte Stadt.


Zu diesem Zeitpunkt hatte uns unsere übrige Familie bereits verlassen. In Berlin hatten sich unsere Wege getrennt. Man gab uns die Möglichkeit in einen anderen Zug nach Süden zu steigen. Ich kann mir bis heute nicht erklären, was sie genau dazu veranlassten diesen Weg zu wählen. Später erfuhr ich, sie seien jeweils nach Frankfurt und nach München gefahren, weit weg von uns, in den Süden des Landes. Gleichgültigkeit spürte ich ihnen gegenüber. Wann uns jemand aus diesem Zug schmeißen würde, wusste ich zu diesem Zeitpunkt noch nicht. Die teilweise provisorisch reparierten Gleise geleiteten uns durch die ersten mit zahlreichen Militärblockaden versehenen Vororte. Viele Soldaten und Militärfahrzeuge sah ich. Traurigerweise hielt unser Zug hier auch nicht. Dichter und dichter reihten sich nun die Gebäude aneinander. Immer mehr fühlte ich mich heimisch. Die ersten vollständig in Ruinen liegenden Häuserwände grenzten den völlig durchschlagenen Asphalt der breiten Verkehrsachsen ein. Dann auf einmal tat sich eine Leere auf. Eine breite Sandbank grenzte unmittelbar an die Überbleibsel der letzten Häuserwände. Es gelang mir nun einen Blick auf den gewaltigen Fluss vor unter uns zu erhaschen. Wildes, rauschendes mit den Trümmern gefülltes Wasser bahnte sich seinen Weg flussabwärts. Dabei wurde der Fluss zu einer Todesfalle für jeden, der vorhatte auch nur annähernd in seine Nähe zu kommen. Vor mir flussaufwärts bahnte sich das Wasser in mehreren von den Naturgewalten zurückerlangten Bahnen, die die Siedlung auf der ehemaligen Flussinsel völlig vernichteten. Die Kraft eines von Menschen unkontrollierten Flusses war angsteinflößend. Die Bomben hatten hier die Deich- und Flussanlagen gesprengt, sogleich überließ man dem Fluss die Aufgabe die Stadt an seinen Ufern mit sich zu reißen. Weiter gen Norden sah ich Stahlbalken zerfetzt von den ehemaligen Brücken herunterhängen und das Wasser aufschäumen. Die alten Gebäude am Flussufer waren wie auch in Breslau von den Bomben auf eingeschossig verkleinert worden. Reste von ehemalig architektonisch schönen, nun unbrauchbaren Stadtvillen. Es würde wahrscheinlich noch eine Ewigkeit dauern, bis hier wieder Menschen wohnen konnten. Es dauerte eine Weile bis unser Zug den Fluss auf der hölzernen Behelfsbrücke vollständig überquerte. Augenblicklich als ich zwischen meinen Füßen runter auf die Schienen schaute, bekam ich es mit der Angst zu tun. Wie konnte dieses hölzerne Konstrukt ein Zug von derartiger Länge nur tragen? Knurrend machten sich die zehntausend Wagons im Schneckentempo über die sich unter der Last beugenden Holzbalken des sich Brücke nennenden Behilfskonstrukts. Nachdem der Zug die Elbe passierte, drehte er nördlich ab. Ein weiterer tragischer Blick zurück auf die gesamte Stadt Magdeburg. Wieder erfüllte es mich mit Trauer. Ein tragisches Bild der Zerstörung, dass ich mir immer und immer wieder einverleiben musste. Bei der Weiterfahrt durch den westlichen Teil der Stadt ließ sich ebenfalls nichts vorfinden als gähnende Verwüstung. Die Schienen lagen teilweise auf eine Art Deich angehoben über der Stadt. Mein Blick zog es ein letztes Mal auf den reißenden, durch die Ruinen wütenden Fluss. Pure Gewalt. Auch wenn es mir im Angesicht der Zerstörung nicht erlaubt derartig makaber zu sinnieren. Dachte ich, es sei eine Verschwendung den Fluss in Zukunft wieder kontrollieren zu müssen. Lasst ihn doch frei. Bindet ihm nicht wieder die Zügel auf. Mittlerweile verkleinerte sich die Silhouette der Stadt von neuem. Vororte zogen wieder im Minutentakt an uns vorbei. Aus einem Gleis wurden zwei. Aus zwei vier. Aus vier acht. Links und rechts neben uns eine Vielzahl von Abstellgleisen. Unser Wagon kam langsam aber sicher zum Stehen. Auf den gegenüberliegenden Gleisen fiel mir in der Ferne auf, dass dort ein anderer Flüchtlingszug sein Dasein fristete. Gerade so gelang es mir das Ende des Zuges, den letzten Güterwagon am Horizont zu erspähen. Verschreckt schaute ich über meine Schulter zu meiner Mutter, die sich nachdem der Zug zum Stehen gekommen war rechts zu mich setzte, um mütterlich und behutsam ihren Arm um mich zu legen. Ich tat mein Bestes um ihre versuchte Geborgenheit zu erwidern. Mein Blick trieb es nach Osten in die Abenddämmerung. Die dämmernde Abendsonne färbte den Horizont glühend rot. Stichflammen schossen mir entgegen und nahmen mir für einen Sekundenbruchteil das Augenlicht. Ich zuckte, drehte mich ab. Einzelne Tränen kullerten mir aus meinen Äuglein hinunter. Mutter sah mich an. In ihrem Blick bündelte sich ihre Trauer, ihre Schuldgefühle, ihre Angst und ihr Stolz zu einer mir nicht zu ertragenden sinnlichen Wahrnehmung. Ich hielt es nicht aus. Ich sah nur noch nach vorne, gen Westen, entlang der für mich endlosen Gleise. In der Ferne eröffnete sich mir im untergehenden Glanz der roten Sonne ein Blick auf einen Kirchturm. Wir sind an fielen schönen Kirchtürmen vorbeigefahren, dieser war eher durchschnittliches, unscheinbares, ja gar schon hässliches Exemplar. Wenn mich meine Augen vor Erschöpfung nicht täuschten, stand der Turm dort schief in der Landschaft. Die Ziegel waren verkohlt, verbleicht, braun, schwarz und gelb. Die Dachziegel der Turmspitze teilweise herausgebrochen. Löcher schienen in ihr zu klaffen. Ich hatte keine Erklärung dafür weshalb mich dieses gänzlich traurige Erscheinungsbild einer Kirche gen Westen leitete. Ja mich fast schon förmlich anzog. Ab von unserer Heimat. Weg von dem lodernden Feuer des Ostens, das nichts außer verbrannte Erde zurücklassen würde. Erde die wir unsere Heimat nannten. Unsere alte Heimat Schlesien…

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